Das Wort «Eskapismus» hat sie schon mit 7 gelernt

Nell Zink spricht richtig gut Deutsch mit nur leichtem Akzent. Die Amerikanerin ist schon viel in der Welt herumgekommen, momentan lebt sie in Deutschland. Trotzdem liest an diesem Morgen ein Profi für sie die Textpassagen. Günther Baumgarten erweckt mit seiner sonoren Stimme die Geschichte zum Leben, die an einem College in Virginia in den 60er Jahren spielt. Bereits im ersten Textauszug geht es mit den Protagonisten richtig zur Sache: Der schwule Literaturprofessor und Dichter Lee begibt sich mit der Studentin Peggy ins Kanu. Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte bzw. «Sexgeschichte», wie Zink sogleich präzisiert, beginnt.

Ich frage mich, wie die anzüglichen Beschreibungen aus Zinks Mund wohl klingen würden, in ihrem melodiösen kalifornischen Englisch. Gewiss wäre dies eine ganz andere Lese- bzw. Zuhörererfahrung. Die verschwundene Welt der 60er Jahre wieder aufleben zu lassen, das sei Zinks Absicht gewesen. Die Gesellschaft sei damals noch ganz anders gewesen. Sie selbst sei absolut nonkonformistisch erzogen worden und habe das Wort «Eskapismus» bereits mit Sieben gelernt. Das kann man fast nicht glauben, wenn man sich solche Textpassagen anhört.

Schade, dass das Gespräch allzu oft in Biographisches abdriftet; gerne hätte ich noch etwas mehr über Peggys Geschichte erfahren. Interessant ist auch die Frage, wieso der Deutsche Rohwolt Verlag den ursprünglichen Titel von Zinks Roman «Mislaid» mit «Virginia» übersetzt hat. «Mislaid» bedeutet auf Deutsch schliesslich so viel wie «verlegt (werden)». Schade, dass die vielen Bedeutungsmöglichkeiten, die in diesem Titel mitschwingen, nicht in die deutsche Übersetzung mit eingeflossen sind.  Ist Peggy wohl die vom Leben «Verlegte» und im Leben «verloren gegangene» Figur dieser schwierigen Familiengeschichte?

„Nicht irgendwelche Wörter…“ Die 41. Solothurner Literaturtage sind eröffnet.

Andächtig still war es im Landhaussaal, als die Singer-Songwriterin Pink Spider mit melancholischen Klängen am 30.05. die 41. Solothurner Literaturtage einleitete. Eher gesetzt und bedachtsam schloss sich die Eröffnungsrede der Geschäftsführerin Reina Gehrig an. Ihr emphatisches Konzept von Literatur als Ort der Freiheit, Weltoffenheit und Gleichheit ebnete der Veranstaltung den Weg.

Literatur habe eine Aufgabe, lautete das einstimmige Statement des Festivalauftaktes: Nicht allein um Wörter und nicht allein um „irgendwelche Wörter“ solle es nach der Autorin Amina Abdulkadir im diesjährigen Festival gehen, sondern um eine engagierte und gelebte Literatur.

Einen ersten Beweis erbrachten die Veranstaltenden performativ: Denn mit Reina Gehrig, der Nationalpräsidentin Marina Carobbio Guscetti, der Musikerin Valerie Koloszar und fünf Autorinnen führten ausschließlich Frauen durch das Abendprogramm. Mittendrin 988 Wörter in elf Absätzen der US-amerikanischen Schriftstellerin Nell Zink. Mit Charme, Witz und Ironie verband sie Reflexionen über benachteiligte, depressive weibliche Romanfiguren zu einem feministischen Plädoyer jenseits aller Opferdiskurse. Ganz nebenbei verhandelte sie außerdem gesellschaftliche Großkonzepte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Nationalismus und Demokratie, worauf die Autorinnen Laura Di Corcia, Rinny Gremaud, Leontina Lergier-Caviezel und Amina Abdulkadir jeweils in ihrer Muttersprache literarisch antworteten.

Bis Sonntag werden über hundert Autor*innen in den vier Landesprachen der Schweiz lesen, performen und diskutieren. Es bleibt mit Carobbio Guscetti zu hoffen, dass die Literaturtage nicht nur einen Anlass bieten, den „inneren Bücherschrank“ zu füllen, sondern auch neu zu sortieren.