Nicht zu kurz gekommen

Es sei ein Aufgehoben- und Verlorensein, eine Heraus- und Überforderung, ein Einsinken und Fortstraucheln, ein Ha! Mit einem „höchstverstörten ABC“ fasste Stefan Humbel seine Leseerfahrung der Gedichtbände „Zwiegesicht“ und „Mund und Amselfloh“, Ersteres von Ernst Halter und Zweiteres von Sascha Garzetti, zusammen. An Stränge habe der Moderator beim Lesen denken müssen. Stränge, welche die Gedichte verbanden und den Leser zuweilen aus dem Wortmaterial zu retten vermochten. Dann war die Rede von der Verdrehung von Erwartungen – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung? Das Kürzen sollte nämlich Thema des Gespräches sein. Doch wenig wollte man anscheinend darüber reden. Weil es zu schmerzhaft ist? Wohl kaum, denn stattdessen berichtete Garzetti von seinem Grossvater, der zuletzt nur noch Eis ass, bevor er aus dem Leben schied und er las ein Gedicht vor, geschrieben in jener eisigen Zeit, als seine Grossmutter im Krankenbett lag. Tiefschürfend und präzise sind seine Worte. „Unvergesslichkeiten“, nennt Halter solche Erinnerungen und erzählte davon, wie er als Achtjähriger die kalte Leiche seines Grossvaters im Sarg geküsst hat. Alles Erfahrungen, die in ihren Gedichten wiederauftauchen würden. Zwingend jedoch transformiert. Nicht zuletzt, weil jedes Wort nur eine Metapher darstelle und darüber hinaus seinen eigenen Willen habe. Immer tiefer fühlte man sich als ZuhörerIn hineingezogen in den Kosmos der Sprache, der umso eigenwilliger werde, je mehr man sich mit ihm und in ihm beschäftige, wie Halter meinte. Eine Warnung? Zwanzig Jahre habe er schon an einem Gedicht geschrieben, so Halter, doch er sah es gerne gedeihen. Er lächelt, lächelt viel. Seinen um viele Jahre jüngeren Gesprächspartner ermutigt er denn auch, keine Hemmungen davor zu haben, die eigenen Gedichte auch nach deren Publikation noch zu überarbeiten, schliesslich sei das Schreiben ein wunderbarer Entwicklungsprozess. Ein weiteres persönliches Hilfsangebot für Schreibende oder solche, die es gerne werden würden, reicht Garzetti ein: Er liest, bevor er schreibt. Und wann schreibt man nun? Wann meldet sich ein Gedicht? Humbels Fragen werden indirekt beantwortet: Halter liest zwei Gedichte über Beginne. Und macht Lust auf mehr. Auch gibt er ein Gedicht wieder, das sich tatsächlich noch reimt. Oder wie Halter es nennt: Eine gebundene Rede, in der sich die Wörter sinnvoll Antwort geben. Und dann wurde das Thema „Kürzen“ doch noch gestreift: Wenn der Schreibprozess einmal seinen Anfang genommen hat, was treibt ein Gedicht an und wann hört es auf? Garzetti kann immerhin eine Teilantwort geben: Er verspüre schlichtweg einen Zwang zur Verdichtung gewisser Dinge. Wortwörtlich. Manches müsse hochkonzentriert in einem Gedicht Ausdruck finden. Dabei ergebe sich die Form einfach, manche Gedichte fallen länger, manche kürzer aus; überdies haben für ihn Rhythmus und Klang grössere Bedeutung als der Inhalt eines Gedichts. Halter schiebe seinen Gedichten auch keinen Riegel vor. Das mache nur unglücklich. Ein Gedicht sei dann zu Ende, wenn es zu Ende sein will. Manchmal ist es nach wenigen Zeilen erschöpft und manchmal möchte es länger sein. Über kurz oder lang fand man also doch noch zum Thema. Auf jeden Fall boten die beiden Lyriker einen überaus spannenden Einblick in ihr Schaffen.

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