Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner