KW26

«Ich sitze nicht fünf Jahre an einem Text, um mich darin über jemanden lustig zu machen.»

Im Gespräch mit Sarah Schwedes gibt Tabea Steiner Einblicke in ihren neuen Roman «Immer zwei und zwei» und dessen Ursprünge.

Von Sarah Schwedes
27. Juni 2023

Tabea Steiner, Ihr neues Buch Immer zwei und zwei handelt von einer Frau, die aus ihrer konservativen Glaubensgemeinschaft ausbricht. Was hat Sie zu diesem Buch bewegt?

Ich bin selbst in einer streng religiösen Gemeinschaft aufgewachsen. Mir ging es vor allem darum, nochmals über das Geschehene, über die Strukturen solcher Gemeinschaften nachzudenken. Für mich erzählt Immer zwei und zwei auch eigentlich keine Ausbruchsgeschichte. Die Protagonistin Natali bleibt ja die längste Zeit des Buchs in dieser Gemeinschaft. Ihr Glaube wird ihr aber von dieser Gemeinde abgesprochen. Das ist der grosse Skandal. Jemand macht etwas ein kleines bisschen anders, und schon passt es nicht mehr.

Dafür wählen Sie eine ganz bestimmte Sprache. Der Text ist fragmentiert, liefert Ausschnitte aus den Leben der Figuren. Aufgeteilt ist er in einen Teil A und einen Teil B. 

Mich hat interessiert, was mit Natali in der Gemeinde geschieht und wie man das sprachlich darstellen kann. Teil A und B erinnern an Kassetten-Seiten; das ist eine kleine Spielerei. In Teil A werden die drei wichtigen weiblichen Perspektiven des Buchs vorgestellt. Natali, Kristin, die Theologin und Rosalie, Natalis Freundin, haben jeweils eigene Kapitel. Kristin ist häufig zu Hause und bei sich. Natali denkt über ihr ganzes Leben nach. Teil A ist insofern auch gestaltet wie ein Fotoalbum: Man sieht kleine Ausschnitte. Rosalie hat in Teil A eigentlich keine eigene Stimme. Es wird nur über sie geredet und das häufig auch in der indirekten Rede. Das war eine wichtige ästhetische Entscheidung, dass über Leute und Dinge häufig nur indirekt gesprochen wird.

Und Teil B?

Die Sprache für Teil B habe ich erst während des Lockdown gefunden. B zeigt die Aussenseite, die ‹heile› Welt. In vielen Gemeinschaften wischt man vieles unter den Teppich; man will unbedingt die Harmonie bewahren. Man darf sich nicht uneinig sein. Bevor es zur Diskussion kommt, wird das Thema gewechselt – oder ein Lied angestimmt, wie im Buch. Teil B kann man sich vorstellen wie eine Glasur: Alles wirkt glatt. Als Kind hört man häufig den Teppich-Vergleich: Das Leben ist wie ein Teppich. Von unten sieht man nur Fäden, aber von oben, vom Himmel aus, sieht man das schöne Muster. Auch dieses Bildnis liegt dem Text zugrunde.

Zur Autorin

Tabea Steiner, geboren 1981 in der Ostschweiz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik und Alte Geschichte in Bern. Steiner ist als Literaturvermittlerin, Moderatorin und Veranstalterin tätig. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival, ist Organisatorin des Lesefests Aprillen in Bern und amtiert als Jurymitglied der Schweizer Literaturpreise. Mit ihrem Debütroman «Balg» wurde Steiner für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Foto: © Markus Forte

Natali verliebt sich in Kristin. Für sie verlässt sie ihren Mann. Homosexuelle Beziehungen sind doch in konservativen Glaubensgemeinschaften undenkbar; im Buch wird darüber aber praktisch nicht gesprochen.

Das stimmt. Mich hat auch erstaunt, dass dieses Thema in der bisherigen Rezeption des Buches nicht aufgegriffen worden ist. Der eigentliche Skandal dieser Beziehung ist also in gewisser Weise unter den Text gelegt. Man sieht ihn auf den ersten Blick gar nicht, was mir gefällt. In den meisten konservativen Glaubensgemeinschaften sind gleichgeschlechtliche Beziehungen Tabus. Es wird so getan, als ob es diese nicht gäbe. Das Thema wird unter den Teppich gekehrt. Darum wird auch Natali im Buch nicht ernst genommen und ignoriert. Das geht aber natürlich nur, weil es sich um weibliche Sexualität handelt. Bei zwei Männern wäre es natürlich etwas ganz anderes.

Kristin ist Theologin. Welche Entscheidung steckt dahinter?

Die Theologie weiss, dass sie etwas mit der Welt zu tun hat, dass sie etwas zu sagen hat. Glaube spielt immer noch für viele eine Rolle und die Theologie liest das kulturgeschichtlich. Sie stellt sich ausserdem die Frage, welche Rolle die Kirche heute spielen soll. In der Freikirche hingegen ist die Theologie die grosse Abwesende. Die Freikirchen-Religion ist privat, intim und bleibt auch immer in diesem Rahmen. Sie wendet sich von allem Äusseren ab; positioniert sich nicht zu gesellschaftlichen oder politischen Themen. Sie kümmert sich nur um die Frage, wie man richtig zu leben habe – und das bis ins Detail, bis hinein in die Sexualität. Kristin ist vorwärtsgewandt. Sie zeigt, dass man sich mit dem Glauben auch professionell auseinandersetzen kann.

Denkt man ans Christentum und Literatur, kommt man unweigerlich auf die Bibel…

Die Bibel wird in Freikirchen als fertiges, ganzes Buch angesehen. Dahinter steckt in gewisser Weise auch ein Geniegedanke, an dem nicht zu rütteln ist. Dabei haben Menschen darüber bestimmt, haben diese Texte immer wieder überschrieben. Die Bibel wird nicht als das Palimpsest, als das historische Werk wahrgenommen, das sie ist. Egal, ob man an den göttlichen Ursprung glaubt: Die Bibel ist ein menschengemachter Text und das darf sie auch sein.

Zur religiösen Sprache gehört auch das Gebet. Warum wird in Immer zwei und zwei nicht gebetet?

Die Gebete und auch die Predigt habe ich gestrichen, da es extrem schwierig ist, so etwas zu schreiben, ohne dabei die Betenden lächerlich zu machen. Darum ging es mir ja nie. Ich sitze nicht fünf Jahre an einem Text, um mich darin über jemanden lustig zu machen. Nur schon das «Amen» des Predigers im Flugzeug ist für mich zu viel, wenn ich diese Szene vorlese. Beten ist sehr privat und wirkt von aussen schnell lächerlich. Aber es ist den Personen wichtig. Man ist dabei vulnerabel, wie in einem intimen Moment. Das ist vergleichbar mit der Beziehung von Natali und Kristin, in der ich auch keine intimen Szenen beschreibe.

Haben Sie also eine ethische Verantwortung gegenüber Ihren Figuren?

Ich will mich mit meinen Figuren auf Augenhöhe befinden. Sie sind nicht meine Marionetten. Bei meinem ersten Roman Balg war es mir wichtig, dass ich die Figuren verstehe. Auch, wenn ich mit ihren Handlungen nicht einverstanden war; ich musste sie verstehen. In Immer zwei und zwei gibt es aber auch die Figuren Manuel und Tobias, an denen ich einfach etwas aufzeigen will. Bei Tobias ist es mir egal, wenn man ihn nicht mag. Man sollte begreifen, warum er so ist, aber man braucht keine Empathie für ihn zu haben. Von zwei oder drei Personen aus Freikirchen habe ich übrigens die Rückmeldung bekommen, dass sie insbesondere Manuel und Tobias interessant fänden. In einem Mail hat mir jemand geschrieben, dass ja insbesondere Tobias zum Schluss zum Opfer werde. Dabei ist er es doch, der zum Schluss seine Macht missbraucht. Ich musste das zweimal lesen um sicher zu sein, dass ich sie richtig verstanden hatte.

Wie empfinden Sie Ihr eigenes Schreiben, den Schreibprozess?

Schreiben ist wie Surfen. Man versucht, eine Welle zu erwischen, mit dem Meer zu spielen, wird regelrecht süchtig danach, aber bis man, vor allem am Anfang, eine Welle erwischt, kann es Wochen dauern. Man wird immer wieder von der Welle weggefegt. Sprache ist etwas Gewaltiges. Aber man versucht auch, ein Teilchen der Literaturgeschichte zu sein. Literatur kann sehr virtuos sein und es ist ein riesiger Ansporn zu sehen, was man mit Sprache machen kann. Darum will man weitermachen, egal, ob es einem gelingt.

Muss Literatur etwas leisten?

Man muss eh nichts. Aber der Antrieb fürs Schreiben und auch fürs Lesen ist interessant. Vielleicht fixt mich die Sprache an; vielleicht eröffnet sich mir eine neue Welt. Geschichten werden schnell politisch. Ich bin nicht der Meinung, dass Literatur per se politisch sein muss – aber bei den Texten, die ich schreibe, muss ich schon daran glauben, dass sie zumindest ein paar andere Menschen auch betreffen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Das letzte Buch, das mich überwältigt hat, war Irgendwo. Aber am Meer von Arnold Stadler. Es geht um einen alten weissen Mann, der dafür kritisiert wird, dass er Alt-Männer-Geschwätz von sich gibt. Er wird zurecht kritisiert. Daraufhin geht er auf seine griechische Insel und beklagt sich, dass er kritisiert wird. Im ersten Moment dachte ich: «Das klingt ja schrecklich! Warum ist das Buch bei mir?» Aber über die Sprache transportiert er die Zweifel und setzt sich damit auseinander, was es mit einem alten weissen Mann macht. Nicht jedes Buch kann so sein und nicht jedes Buch muss so sein. Aber wenn es gelingt, ist es ein besonderes Buch.

Sie schreiben nicht nur selbst, sie sind auch seit 20 Jahren in der Literaturvermittlung tätig. Wie hat sich der Literaturbetrieb in den letzten 20 Jahren verändert?

Da ist sehr viel passiert. Viele neue Stimmen sind gekommen, zum Beispiel Ralph Tharayil oder Saskia Winkelmann. Auch Graphic Novels zählen jetzt zur Literatur. Diese Vielfalt entdeckt man auch in den Festivalprogrammen. Jedes Literaturfestival ist individuell, und das ist gut so. So werden nicht immer nur die selben zehn Persönlichkeiten eingeladen und die restlichen 200 treten nirgends auf. Die Szene konzentriert sich nicht mehr nur auf ein paar grosse Schriftsteller und die kleinen müssen in deren Fahrwasser schwimmen. Der Kuchen ist zu klein, als dass ein paar davon leben könnten. Dann kann man ihn auch gerade so gut teilen.

Wie erleben Sie persönlich den Literaturbetrieb?

Insgesamt ist die Szene sehr solidarisch. Vor vier Jahren hätte ich noch gesagt, vor allem unter Frauen. Aber auch in dieser Hinsicht ändert sich gerade viel. Zum Beispiel auch zwischen den Generationen: Jetzt ist das Interesse aus beiden Richtungen da, man hört einander zu. Generell ist es wichtig, Einsteiger:innen zu signalisieren: Die Szene ist offen.

Haben Sie Tipps für Einsteiger:innen in den Literaturbetrieb?

Zusammen arbeiten! Alleine hat man auch immer nur eine Sichtweise, aber zu zweit wird der Blick gleich viel weiter. Nicht nur in Hinblick auf die gelesene Literatur, auch sonst. Und es ist natürlich weniger Arbeit.

Und Tipps für Schreibanfänger:innen?

Beim Schreiben ist man viel allein. Darum ist es wichtig, die Texte rauszugeben und andere Meinungen dazu zu hören. Vielleicht hat man selbst einen vollkommen abstrusen Blickwinkel. Das kann ja sein! Man muss den Leuten sagen, dass sie auch kritisieren sollen. Es nützt mir nichts, wenn mir jemand nur sagt, dass der Text gut sei. Ich muss wissen, wo er nicht funktioniert, wo die Sprache nicht interessant ist. Und es ist gut, wenn man durch die Rückmeldungen am eigenen Text zweifelt. Vielleicht weiss man danach auch, warum man genau diese Entscheidungen getroffen hat. Zweifel können einen sicherer machen.

Tabea Steiner: Immer zwei und zwei. 208 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2023, ca. 29 Franken.

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