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Das Kreuzfahrtschiff am Ende der Welt

«Glitsch» lautet der Titel des zweiten Romans von Adam Schwarz, in dem vor einer postapokalyptischen Kulisse ein Kreuzfahrtschiff und seine Passagiere langsam aber stetig in einen Strudel des Absurden manövriert werden.

Von Marco Neuhaus
12. Mai 2023

Die Klimakatastrophe ist längst eingetreten. Die Eisberge sind geschmolzen, die Menschheit dezimiert und von Hungersnöten zerrüttet. In dieser Welt gleichsam nach dem Weltuntergang besteigen Léon und seine Freundin Kathrin das Kreuzfahrtschiff Jane Grey mit Kurs auf Japan, wo Kathrin an einer Forschungskonferenz teilnehmen soll. Er, ein nach eigener Einschätzung mediokrer Endzwanziger, ahnt längst, dass die Dinge in ihrer Beziehung nicht zum Besten stehen. Es kriselt, und dann ist Kathrin plötzlich spurlos verschwunden. «Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.», steht auf einer herausgerissenen Notizbuchseite. Was wie eine geradlinige Trennungsgeschichte im postapokalyptischen Setting beginnt, entwickelt sich immer mehr zum kühnen Verwirrspiel. Denn plötzlich taucht Léon in der digitalen Passagierliste nicht mehr auf, wird verfolgt, und an Kathrin scheint sich niemand mehr zu erinnern. Und immer wieder tauchen die Schriften und Ideen von C. C. Salarius auf, einem obskuren Philosophen und mutmasslichen Guru, der von einer Menschheit träumt, die Begriffe und Sprache wieder aufgibt und vom evolutionären Irrweg des Denkens abrückt. Wird Léon Opfer einer Verschwörung?

Zum Autor

Adam Schwarz, geb. 1990 in Bülach (Basel), hat Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig studiert. Er arbeitet als freier Journalist («Neue Zürcher Zeitung», «Literarischer Monat», «VICE») und war bis 2020 Redaktor der Oltner Literaturzeitschrift «Narr». 2017 erschien sein Prosadebüt «Das Fleisch der Welt». Mit «Glitsch» (2023) legt er seinen zweiten Roman vor.
Foto: © Stefan Dworak

Adam Schwarz bleibt mit Glitsch seinem Faible für skurrile Szenarien treu, die er dann aber trotz einem unterschwellig abgründigen Humor mit unerwartetem Ernst, mit Respekt vor der absurden Logik seiner Geschichten auserzählt. Hatte er in seinem beachtenswerten Romandebut Das Fleisch der Welt oder Die Entdeckung Amerikas durch Niklaus von Flüe den berühmten Innerschweizer Eremiten zu einer Atlantiküberquerung aufbrechen lassen, so ist es diesmal eine nahe Zukunft, in der die Grenzen des Sinns abgetastet werden. Es ist ein dekadentes Milieu auf der Jane Grey, bestehend aus Menschen, die sich in einer sozial stratifizierten Scheinwelt aus Konsum und platter Dauerbespassung vor der Notwendigkeit schützen wollen, dem historischen Moment mit all seiner Drastik ins Auge blicken zu müssen: „Betrieben sie nicht alle Resteverwertung? Zehrten von den Überresten besserer Zeiten, um die Illusion am Leben zu erhalten, alles könne weitergehen wie bisher.“

Der Roman legt dabei auch immer wieder falsche Fährten, stiftet Zweifel an der Realität der Geschehnisse auf dem Luxusschiff und an dessen Interpretation durch die Hauptfigur. In letzter Instanz bringt Glitsch doppelbödig Sprache, Denken und Erzählen selbst auf den Prüfstand, lässt die Figur Léon gegen „das Dornengestrüpp seiner Gedanken“ ankämpfen:

„Hauptsache, die infernalische Gedankenmaschine in seinem Kopf hörte endlich auf, vor sich hinzurattern. Es war ein Kampf, ein Selbst zu sein, ständig diese Story am Laufen zu halten, Öl hineingießen zu müssen, damit ihr Feuer weiter brannte. Er wollte nicht mehr im Zentrum seiner eigenen Aufmerksamkeit sein.“

Trotz aller spielerischen Freude an der haarsträubenden Handlungsentwicklung findet sich hier ein aufrichtiger Kern, der Schwarz als Autor von der launigen Berauschung am Spinnerten abgrenzt, an der man bisweilen etwa bei Gion Mathias Cavelty teilhaben kann; ein Kern, der listig umspielt wird, ohne selbst zum blossen Spiel zu werden: die Sorge um eine Menschheit, die mitten im Krisengeschehen vom Rattern im eigenen Schädel übermannt wird. All das freilich nicht in einer gespannten Kunstsprache, sondern in einem süffig-flapsigen, charmant nerdigen Idiom, in dem sich Anglizismen, Videospielreferenzen, philosophische Begrifflichkeiten und Filmzitate tummeln.

Das erzählerische Kalkül des Romans geht auch deswegen so gut auf, weil Schwarz es versteht, mit der notwendigen Geduld am Absurditätsregler zu drehen und seine Handlung nur langsam ins wilde Wasser des Abwegigen zu senken. Glitsch ist ein fintenreiches Buch, das mit seinen Kräften hauszuhalten weiss, ein schlauer Steigerungslauf, der mit einem grossen Furioso endet.

Adam Schwarz: Glitsch. 296 Seiten. Basel: Zytglogge 2023, ca. 32 Franken.

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