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«Ich halte Kritik aus, sie ist mir wichtig.»

Ein Gespräch mit der Autorin und Literaturvermittlerin Tabea Steiner über ihren Einstieg in den Literaturbetrieb, feministisches Engagement und ihren nächsten Roman.

Von Redaktion
30. August 2021

Tabea Steiner, Sie sind als Schriftstellerin und Literaturvermittlerin tätig und haben das Literaturfestival in Thun initiiert. Es fällt auf, wie früh Sie in den Literaturbetrieb eingestiegen sind. Wie kam es dazu?

Ich bin nach Thun gezogen und habe gleichzeitig – weil ich schon immer gern gelesen und viel geschrieben habe – erste Texte in einer kleinen Anthologie veröffentlicht. Die Herausgeber fragten mich daraufhin, ob man eine Lesung mit den Autor:innen der Texte machen könne. Das war vor etwa achtzehn Jahren und bedeutete den Einstieg für mich.

Für die Finanzierung der Lesung fragte ich bei der Stadt Thun an und war erfolgreich, später beim Kanton und dann bei Stiftungen und Sponsoren. Dann ging es an die Auswahl der Schriftsteller*innen. Steht der Anfang eines solchen Projektes erstmal und ist der erste Anlass erfolgreich gewesen, zieht es auch Interessierte und Helfer:innen an. Viele Freunde aus der Uni-Zeit waren lange Teil des Teams oder sind es immer noch.

Zu Ihrer Arbeit im Literaturbetrieb gehören auch Mitgliedschaften in Literaturkommissionen.

Richtig, ich bin in der Jury für den Eidgenössischen Literaturpreis, jedoch nur noch für eine Runde. Es ist eine sehr aufwendige Arbeit. In einem ersten Schritt lesen die deutschsprachigen Jury-Mitglieder 80 – 100 deutsche Texte. Das muss alles sehr gründlich gelesen sein, denn am Ende muss man sich für jedes Buch ein gut fundiertes Urteil gebildet und alle Texte präsent haben, wobei man natürlich weiss, dass man nicht allen Texten gerecht werden kann. Dann kommt der zweite Teil, die sogenannte Shortlist. Das sind nur noch 20 Texte, eine Auslese aus allen vier Landessprachen. Von den 120 – 200 Texten werden am Ende nur sieben Bücher ausgezeichnet. Ich bin gern in dieser Jury und nehme diese Arbeit sehr ernst. Sie ist mit grosser Verantwortung verbunden. In der Literaturkommission Kanton Bern war ich auch bis 2014. Dort dauert die Mitgliedschaft 8 Jahre und man liest bedeutend weniger Bücher, nämlich 60-80.

Zur Autorin

Tabea Steiner, geboren 1981 in der Ostschweiz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik und Alte Geschichte in Bern. Steiner ist als Literaturvermittlerin, Moderatorin und Veranstalterin tätig. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival, ist Organisatorin des Lesefests Aprillen in Bern und amtiert als Jurymitglied der Schweizer Literaturpreise. Mit ihrem Debütroman «Balg» wurde Steiner für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Foto: © Markus Forte

Das Virus hat weite Teile der Kultur eingefroren. Wurde Literaare 2020 abgesagt?

Literaare 2020 hätte eine Woche vor dem Lockdown im März durchgeführt werden sollen; wir haben jedoch abgesagt, weil wir in Sorge um die Ansteckungen waren. Aber wir konnten die Veranstaltung auf September 2020 verschieben. Einerseits waren wir froh, allein schon für die ganze Organisation und die Termine, andererseits war alles aber viel komplizierter und wir waren auch zu dem Zeitpunkt sehr angespannt, weil es kurz vor der zweiten Welle im Oktober war.

Das Literaturfestival Bern Aprillen wurde ganz abgesagt. Alternativ konnten wir dafür eine Serie mit Texten der eingeladenen Autor*innen im Bund veröffentlichen, einige Autoren*innen haben wiederum einen Leseplatz bei der BuchBasel oder bei Zürich liest erhalten.

Sie sind Mitbegründerin von RAUF, einem feministischen Autor:innen-Kollektiv. Wofür engagiert Ihr Euch?

RAUF ist eine Wortspielerei, ein Anagramm von FRAU. Eine kleine Gruppe von Schriftsteller:innen hat dieses Autorinnen-Kollektiv 2018 gegründet: Julia Weber, Gianna Molinari, Katja Brunner, Anaïs Meier, Sarah Elena Müller, Michelle Steinbeck und ich. Es geht uns ganz allgemein um die Sichtbarmachung von Frauen*. Beispielsweise haben wir im April in der Reihe «50 Jahre Demokratie» im Literaturhaus und Strauhof einen Anlass zum Frauenstimmrecht mit Frauen aus Politik, Literatur und Architektur veranstaltet. Ausserdem planen wir gerade eine Veranstaltung zum 100. Geburtstag von Erika Burkart. Welche Stimme Frauen* in unserer Gesellschaft haben, das wollen wir bewusst machen und verändern.

Im Zusammenhang mit ihren Projekten liegt es nahe, dass Sie auch über Gendersprache nachdenken.

Ja, das ist tatsächlich ein wichtiges Thema für mich. Ich finde es müssig und ärgerlich, wie viele Menschen sich weigern, andere Menschen angemessen zu bezeichnen, sprich so, wie sie es möchten. Für diese Weigerung kann ich je länger desto weniger Verständnis aufbringen. Sprache bildet Realität ab, schafft sie aber gleichzeitig auch, deshalb sehe ich nicht ein, weshalb viele Menschen das nicht akzeptieren können. Man kann nicht immer nur sagen, die Frauen sind mitgemeint, sie waren es nämlich sehr lange nicht.

Genderbewusste Sprache erfordert ein neues Denken, Rede- und Schreibfluss werden unter Umständen erheblich gebremst. Wollen respektive können wir das verändern?

Die durch diese Verlangsamung gewonnene Zeit kann man nutzen, um sich bewusst zu machen, von wem, mit wem man spricht. Sprache ist nicht naturgegeben, sondern konstitutiv im Wandel. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Sprache und Feminismus und unserem Sprachgebrauch. Deshalb müssen wir unser Bewusstsein für die Macht der Sprache schärfen. Genderbewusste Sprache löst natürlich auch grosse Unsicherheiten aus; viele Menschen wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, manche merken, dass sie etwas abgeben müssen. Ich bin beispielsweise manchmal auch nicht sicher, ob ich Menschen aus der LGBTQ+-Community richtig bezeichne. Dafür gibt es aber eine ganz einfache Lösung: Nachfragen. Ich glaube, dass wir als Gesellschaft diese Unsicherheiten eine Weile lang aushalten müssen, wenn wir wollen, dass sich etwas verändert.

Was meinen Sprachgebrauch angeht, so benutze ich in manchen Texten konsequent die weibliche Form, das ist mein Statement. Ich möchte, dass sich das Bewusstsein ändert; Sprache ist ja nur die Oberfläche. Sprache ist elastisch.

Ihr erstes Buch Balg wurde gleich im Jahr seiner Veröffentlichung für den Schweizer Buchpreis nominiert. Arbeiten Sie zur Zeit an einem neuen Projekt?

Ja, ich bin seit drei Jahren an meinem zweiten Roman. Ich arbeite mit verschiedenen Fassungen, gebe diese einigen Freund:innen zum Lesen weiter und so kristallisiert sich ganz langsam im Austausch mit Anderen eine Ordnung und Struktur heraus. Meine Texte gebe ich unterschiedlichen Leuten zum Gegenlesen; ich halte Kritik aus, sie ist mir wichtig. Allerdings ist es für diese frühen Lesenden auch wichtig zu wissen, in welchem Stadium mein Text sich gerade befindet.

Die Geschichte steht eigentlich schon. Im Gegensatz zu meinem ersten Roman spielt die Handlung in der Stadt, und so viel kann ich schon sagen: Eine Frau, Mutter von zwei Kindern, arbeitet mit kleinem Pensum an einer Schule, daneben hat sie eine kleine Werkstatt, in der sie sich als Künstlerin versucht. Die Familie ist in einer enggestrickten religiösen Gemeinschaft eingebunden. Eines Tages verliebt sich die Frau in eine andere Frau. Das ist eine Beziehung, ein Begehren, das in dieser Umgebung erstmal nicht ernstgenommen wird, schliesslich für die religiöse Gemeinschaft aber zur Bedrohung wird, denn Homosexualität ist darin nicht vorgesehen.

Über den ideologischen Konflikt hinaus geht es mir darum zu zeigen, was mit einer Person passiert, die in so einer gesellschaftlichen Enge aufgewachsen ist. Sie kann nicht einfach aus dieser klerikalen Gemeinschaft austreten, denn ihr ganzes Leben ist darin eingebunden. Sie ist in diesen Strukturen aufgewachsen und ohne diese zunächst orientierungslos, denn über ebendiese soziale Logik erhält sich so ein ideologisches System. Diese Erfahrungen und Prozesse literarisch zu reflektieren steht im Brennpunkt meines kommenden Romans.

 

Das Gespräch führte Cornelia Bremi. / Foto Titelbild: © Keystone/Gaetan Bally