KW25

Perspektiven der Perspektivlosigkeit

Bärfuss Mora

Mit einer geplatzten Fruchtblase und Timons Geburt beginnt Tabea Steiners Erstlingswerk «Balg» - gewissermassen mit einer Geburt im doppelten Sinne. Doch die Freude währt nur kurz. Zwischen Erschöpfung, Distanzierung und Überforderung wächst Timon auf dem Dorf heran. Doch ist er wirklich ein Balg? Was kann ein Kind für seine Eltern, die Umgebung, in der es aufwächst, und die Erziehung, die es erhält?

Von Xenia Bojarski
21. Juni 2019

Timons Eltern trennen sich kurz nach seiner Geburt, sie schieben sich gegenseitig für jeden faux-pas die Schuld in die Schuhe. Also zieht Timons Vater Chris seine an und geht – zurück in die Stadt, hat bald eine neue Frau und bekommt noch einen Sohn mit ihr. Antonia, Timons Mutter, ist von nun an allein für den Jungen verantwortlich, arbeitet zu viel, ist überfordert mit den Gepflogenheiten ihres Sohnes und hätte dem Dorf selbst gerne schon lange den Rücken gekehrt, von dem sie sich als alleinerziehende Mutter verurteilt fühlt. Sie vernachlässige ihr Kind, sei verantwortungslos, so heisst es – und immer wieder scheint ihre Vergangenheit sie einzuholen. Zunächst kümmert sich dann auch Timons Grossmutter um den Jungen, bis Timon sie eines Tages beisst und sie sich fortan weigert, ihn zu betreuen. Timon ist immer öfter allein zu Hause; auch in der Schule findet er nicht wirklich Anschluss.

Zur Person

Tabea Steiner, geboren 1981 in der Ostschweiz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik und Alte Geschichte in Bern. Steiner ist als Literaturvermittlerin, Moderatorin und Veranstalterin tätig. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival, ist Organisatorin des Lesefests Aprillen in Bern und amtiert als Jurymitglied der Schweizer Literaturpreise. Mit ihrem Debütroman «Balg» wurde Steiner für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Foto: © Markus Forte

Das Dorf, in dem Timon aufwächst, ist klein. Zu klein für den Ballast der Vergangenheit und all die Gerüchte, die vor sich gehen. Alle kennen sich, alle beobachten sich und alle wissen es besser. Besser, dass Timon ein ungezogener Bengel ist, dass Antonia alles falsch macht und dass Valentin nichts Gutes für Timon wollen kann. Valentin, ein einstiger Lehrer und nun Postbote im Dorf, hat seine eigene Tochter nicht aufwachsen sehen und kümmert sich, wie und wann möglich, um Timon. Er, der dem Jungen immer eine offene Tür bietet, diese aber nie hinter ihm abschliesst, baut eine schrullige, skurrile und im Dorf belächelte Beziehung zu Timon auf.

So durchläuft das «Balg» nun eine Erziehung, deren Konturen kaum zu erkennen sind und die sich vielmehr als eine Erziehung zur Devianz ausnimmt. Timon macht noch lange ins Bett, er schlitzt Kissen auf, beisst und haut seine Mitschüler. Mit 11 Jahren beginnt er zu rauchen, was seine Mutter nicht mitbekommt und worüber Valentin, den Timon immer häufiger besucht, einfach hinwegsieht. Rätselhaft bleibt auf der Handlungsebene, warum Valentin ihm nicht die Leviten liest, wenn Timon ihm die Motorradräder aufschlitzt, seinen Hasen zu Tode schüttelt und einfach in seinem Garten raucht?

Tabea Steiner schreibt gnadenlos, direkt und ohne Umschweife. Jeder Satz hallt nach, lässt innehalten und an der einen oder anderen Stelle sogar das Buch zur Seite legen, weil das, was dort steht, auf den ersten Blick unglaubhaft scheint. Es gibt keine Unterteilungen in Kapitel. Neue Absätze markieren Fokalisierungswechsel, was den Inhalt des Werkes rasant und gewichtig erscheinen lässt. Die Perspektiven sind genau herausgearbeitet und die Verhältnisse zwischen den Figuren werden dadurch detailliert spürbar. Im steten Wechsel von Beobachten und Beobachtetwerden erscheinen die Bewohner des Romans sympathisch und unsympathisch zugleich, verschwimmt die Dichotomie von Gut und Böse. Der Leser taumelt von einer Figurenperspektive in die nächste, immer auf der Suche nach Antworten, nach dem Warum und vielleicht auch nach Besserung. Ein Schuldiger, den man für alles verantwortlich machen könnte, wäre eben eine einfache Lösung. Aber: In diesem Dorf ist nichts einfach.

Tabea Steiner: Balg. 236 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2019, ca. 29 Franken.

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