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Bemalte Tauben, gemalte Tauben, aufgemalte Tauben

«Présence de la mort» (1922), der visionäre Klimawandel-Roman Charles Ferdinand Ramuz', ist in diesem Frühjahr in neuer Übersetzung unter dem Titel «Sturz in die Sonne» beim Limmatverlag erschienen. Grund genug, sich mit dem Übersetzer Steven Wyss über Roman, Autor und die Schwierigkeiten des Übersetzens zu unterhalten. Melanie Gottier hat es getan.

Von Melanie Gottier
16. Juni 2023

Steven, wie kamst du dazu, Ramuz zu übersetzen?

Im Strauhof gab es im Herbst 2022 eine Ausstellung zur Climate Fiction. Die Organisator*innen haben in Vorbereitung für die Ausstellung den Text Présence de la mort von C. F. Ramuz wiederentdeckt und bemerkt, dass es bis dahin keine Übersetzung dazu gab. So wurde ich angefragt, einige Ausschnitte daraus für die Ausstellung zu übersetzen. Währenddessen habe ich das Buch dem Limmat Verlag vorgeschlagen, der Ramuz für den deutschen Raum betreut.

Welche Rolle spielt Ramuz in deinem Leben? Hast du ihn schon vorher gelesen?

Es war ein Autor, der mich auf jeden Fall interessiert hat und ich habe ihn schon vorher gelesen. Es gibt zwei Dinge, die mich an ihm interessieren: Erstens interessiert mich persönlich, wie Ramuz in seinem Schreiben das Verhältnis zu Standardsprache verhandelt. In seinen Reflektionen zur Sprache erkenne ich mich oft auch als Deutschschweizer wieder. Zweitens kommt meine Freundin ursprünglich aus der Region Lavaux und hat eine familiäre Verbindung zu dieser Region. Ich kenne Lavaux inzwischen sehr gut und Ramuz war dort, sowie auch im gesamten Kanton Waadt sehr präsent. Ich hätte mir, ehrlich gesagt, nie erträumen lassen, dass ich ihn mal übersetzen werde. Das hätte ich immer gerne gemacht.

Welche Erfahrungen hast du beim Übersetzen gemacht? Hast du dabei etwas Neues gelernt?

Ja, auf jeden Fall. Das ist allgemein das Spannende am Übersetzen. Eine Mentorin hat das immer sehr schön beschrieben: «Schreiben hat mit einem selbst zu tun und das Übersetzen hat mit jemand anderem zu tun. Oder, dass ich mich mit etwas anderem auseinandersetze». Ich glaube, es gehört dazu, bei jedem Text, den man übersetzt, etwas oder ganz viele Dinge neu zu lernen, zum Beispiel Geduld. Als Übersetzer muss man immer wieder lernen, beharrlich zu sein und nach einer guten Lösung zu suchen.

Wie wichtig ist dir die Nähe zum Original?

Das Wichtigste für mich ist, dass man dem Originaltext treu bleibt und auch der Sprache im Text vertrauen muss. Gerade bei Ramuz, mit seiner eigenen Art zu schreiben, ist man am Anfang schnell im Modus: «Das kann man so auf Deutsch nicht machen, denn das ist irgendwie nicht zumutbar, und dann denkt man, ich kann nicht schreiben». Man muss den Mut haben dem Autor zu vertrauen, denn schlussendlich wusste er, dass er einen ganz bestimmten Stil verwendet. Das muss man als Übersetzer respektieren.

Zur Person

Steven Wyss, geboren 1982. Studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf. Aktuell studiert er an der HKB in Bern Literarisches Schreiben und Übersetzen. Er lebt und arbeitet als freier Übersetzer in Zürich. 2023 erschien seine Neuübersetzung von C.F. Ramuz' «Présence de la mort» unter dem Titel «Sturz in die Sonne».

Wo siehst du Besonderheiten in seinem Schreibstil? Welchen Hürden bist du dabei begegnet?

Am besten lässt sich das an ein paar Eigenarten am Text aufzählen. Es gibt eine Art «Pseudo-Mündlichkeit», wie ich sie nennen würde, da Ramuz ein informelles Register verwendet, kolloquiale Ausdrücke, einen einfachen Wortschatz. Trotzdem sprechen die Menschen im Kanton Waadt natürlich nicht genau so, wie er schreibt, er erschafft eine Art Kunstsprache. Diese zeichnet sich durch die Vielzahl an Wiederholungen, die Bildhaftigkeit, die sehr freie Verwendung des Tempus, die eigenwillige Syntax und, welche oft grenzwertig bis «falsch» ist, sowie durch eine häufige Verwendung vom französischen «on» im Text aus. Das «on» im Französischen hat eine breite Bedeutungspalette. Oft kann es sowohl «wir», als auch «man» bedeuten und an einigen Stellen ist im Text nicht klar, was genau damit gemeint ist. Ramuz spielt bewusst mit dieser Unschärfe. Es war eine grosse Herausforderung, sich in Ramuz’ Sprache einzuarbeiten.

Hast du ein konkretes Beispiel für solche Übersetzerprobleme?

Es gibt eine ganz konkrete Textstelle in Kapitel 8. Dort geht es um eine historische Recherche. Ramuz sagt: «[…] devant le kiosque central, parmi les pigeons peints par les commissionnaires en vert et en brun, en jaune et en rose, en bleu.»

Ich habe nicht verstanden, was es mit den Pigeons auf sich hatte. Es gehört zum Übersetzen, dass man den Fragen seine Zeit geben muss, um eine Antwort zu finden. Doch dies ist die einzige Frage, die ich nicht beantworten konnte, weil ich nicht wusste, ob es sich um echte Tauben, um angemalte oder aufgemalte Tauben handelt. «Les pigeons peints par» lässt verschiedene Möglichkeiten zu. Ich habe daher mit Noël Cordonier, dem Spezialisten aus der Romandie und Präsidenten der Fondation Ramuz, Kontakt aufgenommen. Ich fragte ihn, ob er weiss, was es mit den Commissionnairen und den Pigeons auf sich hat, doch er konnte mir diese Frage auch nicht  beantworten und hatte noch bei einer Historikerin aus Lausanne nachgefragt. Leider wusste auch sie nicht weiter, doch irgendwann kam er mit einer möglichen Lösung. Es muss sich um den Place Saint-François in Lausanne handeln, dort gab es zu dieser Zeit eine Firma, die Commissionnaires, die den Gepäcktransport für Reisen organisierten. Daher muss es sich wohl um ein Werbeschild der Commissionnaires gehandelt haben. Es war dann allerdings immer noch nicht klar, ob es BEmalte Tauben oder GEmalte Tauben oder AUFgemalte Tauben waren. Das war jetzt eine lange Antwort, aber so geht es beim Übersetzen, jedes Detail ist wichtig.

Kannst du dir vorstellen, auch aus anderen Sprachen als dem Französischen zu übersetzen?

Französisch ist sicher die Sprache, die mir am nächsten ist und die mich am meisten interessiert. Ich lerne momentan oder schon seit einer Weile immer besser Italienisch und ich würde eines Tages gerne aus dem Italienischen übersetzen, auch das ist eine Sprache, die mich sehr interessiert. Aber ich bin heute noch nicht so weit, dass ich die Nuancen wie im Französischen schon so gut beherrsche.

Würdest du sagen, die Arbeit im Übersetzerhaus Looren hat dich in Bezug aufs Übersetzen beeinflusst?

Auf jeden Fall. Ich glaube, Looren, meine Stelle oder ursprünglich mein Praktikum, das ich 2019 angefangen habe, steht am Ursprung meiner Literaturübersetzerkarriere. Ursprünglich habe ich ja Fachübersetzen und Angewandte Sprachen (mehrsprachige Kommunikation) studiert, und da war Literaturübersetzungen kein Thema. Erst dank Looren bin ich überhaupt in diese Welt hineingekommen und konnte viele Kontakte knüpfen. Frühling 2020 konnte ich dank des Übersetzerhauses an einem ersten Seminar zur Literaturübersetzung teilnehmen. Es war schnell klar, dass ich auf diesem Weg weitermachen will. Mit der Teilnahme am Goldschmidt-Programm 2021 entschied ich mich dann definitiv, voll auf das literarische Übersetzen zu setzen.

Wie fühlte es sich an, als das Buch fertig war und du es in deinen Händen halten konntest?

Es war eine grosse Freude, «meinen» Text gedruckt in den Händen zu halten. Ich würde ganz klar sagen, dass Übersetzer*innen auch Autor*innen ihrer Texte sind. Denn am Ende habe ich oder jede*r andere Übersetzer*in jedes Wort, jeden Satz, jedes Komma in diesem Text gesetzt und insofern ist es auch ein bisschen mein Text. Das finde ich schön, aber es ist natürlich eben gerade nicht mein eigener Roman. Genau dieses Spannungsfeld finde ich interessant. Man tritt in einen Dialog – in diesem Fall – mit einem 100 Jahre alten Text, mit einem Autor, der schon lange nicht mehr lebt, und versucht mit bestimmten Vorgaben kreativ umzugehen. Andererseits ist es immer auch schwierig loszulassen, und das sehr Definitive eines gedruckten Texts ist schon besonders. Man hat immer Angst, dass man noch Fehler entdeckt oder Dinge, die man nun doch lieber anders machen würde.

Wieso denkst du, dass das Buch damals ein Flop war? War das Szenario einer Klimakatastrophe damals für die Menschen so unrealistisch?

Ich glaube der Inhalt bzw. diese Aktualität, die dieses Buch heute hat und das Interesse, dass es weckt, gab es damals vielleicht nicht. Ich könnte mir vorstellen, dass der Grund, wieso das Buch gefloppt ist, eher auf der literarischen als auf der inhaltlichen Ebene liegt.

Einerseits ist es die Thematik, die nicht wirklich Anklang findet. Dann diese sehr experimentelle Form, da es keine Figur gibt der man wirklich folgen kann und die eigenartige Sprache, bei der teilweise ein sehr biblischer Ton herrscht und an anderen Stellen ein sehr philosophischer. Letztlich war auch der Autor damals nicht auf dem Höhepunkt seiner Popularität, da das Werk kurz vor seinem Durchbruch entstanden und erschienen ist. Es war schon damals, wie heute, sehr schwere Kost und daher ein nicht einfach zu lesendes, geschweige denn zu übersetzendes Buch.

Die Aktualität, die dieses Buch heute hat, und das Interesse, das es weckt, gab es damals wohl nicht. Auch wenn die Handlung für Zeitgenoss*innen wohl abstrakter war als für uns heute, scheint es mir, dass der Grund, wieso das Buch gefloppt ist, eher auf der literarischen als auf der inhaltlichen Ebene liegt. Da ist diese sehr experimentelle Form, es gibt keine Figur, der man wirklich folgen kann, und die eigenartige Sprache, die auch immer wieder das Register wechselt. Letztlich war auch der Autor damals nicht auf dem Höhepunkt seiner Popularität, da das Werk noch vor seinem Durchbruch entstanden und erschienen ist. Es war schon damals – wie heute – sehr schwere Kost und daher ein nicht einfach zu lesendes, geschweige denn zu übersetzendes Buch.

An verschiedenen Stellen im Buch sind unterschiedliche Arten von Kritik sichtbar. Gleichzeitig werden die Folgen der Hitze im Buch einfach ignoriert. Was denkst du darüber?

Es gibt viele Anspielungen auf die Zeit. Man muss den Text ein bisschen verorten. Es gibt einerseits den Ersten Weltkrieg, der noch nicht lange her ist. Dann gibt es die spanische Grippe, worauf auch Hinweise, mit Epidemien und den Leuten, die auf der Strasse tot umfallen, gegeben werden. Weitere starke Motive sind diese Arbeiteraufstände, wobei sich die Armen gegen die Reichen auflehnen. Sicherlich spielte auch der Landesstreik von 1918 in der Schweiz eine Rolle, welcher Ramuz dazu inspirierte. Es schwingt durchaus Gesellschaftskritik mit im Text. Eine interessante Stelle findet sich in Kapitel 11, als die Kavallerie und die Dragoner aufmarschieren, um Arbeiteraufstände zu verhindern. Ramuz spricht von einer «militärischen Ablenkung». Diese lenkt die bürgerliche Gesellschaft vom wahren Problem – der unaufhaltsamen Erderwärmung – ab. Da lassen sich durchaus Parallelen zur Gegenwart ziehen, wenn ich z.B. an die SVP denke, die einen Asyldiskurs bewirtschaftet, anstatt sich über die Klimakrise Gedanken zu machen. Populistische Politik hat ja oft etwas mit Bewirtschaften von Problemen zu tun, die von den eigentlichen Problemen ablenken.

Wo siehst du den Zeitgeist in Ramuz’ Werk? Glaubst du, dass er seiner Zeit voraus war?

Ich glaube schon, dass er ein visionärer Autor war, aber er hat natürlich nicht die Klimakatastrophe vorausgesagt. Sturz in die Sonne ist eben gerade ein guter Klimaroman, weil er eigentlich keiner ist. Ramuz ging es im Text um ein Gedankenexperiment und um die Auseinandersetzung der Menschen und der Gesellschaft mit dem Tod. Trotzdem lesen wir den Text heute fast zwangsläufig als Climate Fiction. Die Stärke des Textes liegt wohl genau darin, dass Ramuz keine Agenda aus heutiger Sicht hatte, er wollte den Menschen im Angesicht des Todes auf den Grund gehen und hat dafür ihr Verhalten sehr genau beobachtet – und offenbar haben sich die Menschen in den hundert Jahren nicht gross verändert.

Glaubst du, dass der Text den Menschen nochmals ein Bewusstsein für ihr ökologisches Verhalten gibt und sie zum Nachdenken anregt?

Ich glaube schon. Ich denke der Text schafft es, den Leuten den Spiegel vorzuhalten. Wenn ich gewisse Stellen lese oder Leuten darüber erzähle, bekomme ich manchmal immer noch eine Gänsehaut, daher denke ich schon, dass es einen bewegen kann. Es ist schon eindrücklich, wie gegenwärtig viele Stellen im Text uns vorkommen, aber es gibt einen riesigen Unterschied zwischen dem Roman und unserer Gegenwart. Die Menschen im Buch haben absolut keine Wahl, sie trifft überhaupt keine Schuld und sie können nichts machen. Es ist eine Fatalität und es wird einfach so kommen. Genau das ist der Unterschied zu unserer Situation.

Wie geht’s bei dir weiter?

Ich würde mich sehr gerne weiter mit Ramuz beschäftigen, auch wenn sehr viel von ihm bereits übersetzt wurde, gibt es noch einige Texte, die man auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich machen sollte. Gerade habe ich aber die Arbeit an einem neuen Übersetzungsprojekt begonnen: Ich übersetze den Roman Les printemps sauvages von Douna Loup.  Dafür habe ich schon einen Vertrag und das Buch wird im Frühling 2024 beim Limmat Verlag erscheinen.

Das Gespräch führte Melanie Gottier.

C. F. Ramuz. Sturz in die Sonne. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Steven Wyss. 192 Seiten. Zürich: Limmatverlag 2023, 30 CHF.

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