KW26

«… dass ich Schriftstellerin bin.» Tabea Steiner im Gespräch

Bärfuss Mora

Mit «Balg» hat Tabea Steiner in diesem Frühjahr ihren Debütroman vorgelegt. Als Organisatorin von Literaturfestivals auf beiden Seiten des Betriebs tätig, sprach die Autorin am Rande der Solothurner Literaturtage mit Xenia Bojarski über das Germanistikstudium, Erzählstrategien und die Schweizer Schriftstellerin Erika Burkart.

Von Redaktion Schweizer Buchjahr
27. Juni 2019

Tabea, Du warst das erste Mal als Autorin an einem Literaturfestival dabei. Wie war der Perspektivenwechsel für Dich?

Sehr schön. Als Organisatorin stehe ich stetig unter Strom, was bei Lesungen zwar auch der Fall ist, aber die Verantwortung ist nicht so gross. Als Organisatorin nehme ich jede Kritik und jeden Zwischenfall sofort wahr und auf. Da ich beide Seiten kenne, schätze ich die Arbeit der Organisatorinnen und Organisatoren sehr und weiss auch die kleinen Details zu würdigen.

Hattest Du schon immer den Wunsch, ein eigenes Buch zu schreiben?

Ja, definitiv. Es war sogar der Grund, weshalb ich Germanistik studieren wollte. Im Studium habe ich dann aber schnell gemerkt, dass Germanistik und literarisches Schreiben nicht viel miteinander zu tun haben. Dennoch hat mir das Germanistikstudium viel gebracht und mein analytisches Denken weiterentwickelt. Als kurz nach Beginn meiner Studienzeit das Literaturinstitut in Biel eröffnet wurde, habe ich für einen Moment überlegt, mich dort zu bewerben. Schlussendlich habe ich mich aber dagegen entschieden und das Germanistikstudium beendet, worüber ich im Nachhinein froh bin. Ich glaube aber, dass es den Absolvent*innen des Literaturinstituts leichter fällt, ein Selbstverständnis als Autorin oder Autor zu entwickeln. Das Aufnahmeverfahren mit einzuschickenden Texten legitimiert die Bewerberinnen und Bewerber bereits, anderenfalls muss man sich gewissermassen selbst dazu befähigen oder ernennen. Früher habe ich immer gesagt, dass ich schreibe, also: Dass ich Autorin bin. Seit ich das Buch zum ersten Mal in den Händen hielt, sage ich, dass ich Schriftstellerin bin. Ich finde, dass das ein schöner Begriff ist. Dazu beigetragen hat sicher, dass ich ein Stipendium am LCB bekommen habe, was wichtig für mich war.

Zur Autorin

Tabea Steiner, geboren 1981 in der Ostschweiz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik und Alte Geschichte in Bern. Steiner ist als Literaturvermittlerin, Moderatorin und Veranstalterin tätig. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival, ist Organisatorin des Lesefests Aprillen in Bern und amtiert als Jurymitglied der Schweizer Literaturpreise. Mit ihrem Debütroman «Balg» wurde Steiner für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Foto: © Markus Forte

Wusstest Du von Anfang an, dass sich Deine Erzählung um die Figur Timon entspinnen würde?

Nein, begonnen habe ich mit einer Nebenfigur, Valentin. Während drei Jahren habe ich die Wahrnehmung des Dorfes, in dem der Roman spielt, aus seiner Perspektive entwickelt. In dieser Zeit habe ich das Dorf kennengelernt und die Stimmung, die dort herrscht, weshalb ich die anderen Figuren später schneller entwickeln konnte. Das Dorf hat die Figuren geprägt. Ich hatte eine erste Fassung, habe aber gemerkt, dass diese irgendwie unbefriedigend ist und ein Erzählstrang fehlt. Das klingt vielleicht etwas kitschig, aber dann ist Timon, der jetzige Protagonist von Balg, um die Ecke gekommen. Interessanterweise ist mir Timon bei einer Lesung von Klaus Merz eingefallen. Ich hatte wirklich dieses Bild vor Augen: Er geht zu Valentin und zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft. Alles Weitere folgte daraufhin wie von selbst, die Mutter, der Vater, die Trennung etc.

Wie bist Du auf die Namen für Deine Figuren gekommen?

Das verlief sehr unterschiedlich. Ganz am Anfang hiess Valentin nur «der Postbote», Antonia war lange einfach «die Mutter». Dann habe ich entschieden, dass sie auch einen Eigennamen braucht. Ich habe in Statistiken nachgeschaut, welche Namen im Jahr 2004, in dem die Erzählung beginnt, in der Schweiz häufig vorkamen. Ein wichtiges Entscheidungskriterium war für mich, dass ich die Namen nicht mit Personen aus meinem nahen Umfeld assoziiere, damit mir das beim Schreiben nicht in die Quere kommt. Es ist wirklich entscheidend, welche Namen die Figuren tragen. Ausserdem lässt sich mit Bezeichnungen auch eine Perspektive und die Beziehungen zwischen den Figuren markieren. Timon nennt Valentin zum Beispiel immer «der alte Mann».

Glaubst Du, dass Timon mehr das Dorf oder das Dorf ihn prägt oder spielt da eine Wechselwirkung?

Ich denke, das war ein Wechselspiel. Daher war es mir wohl wichtig, die Erzählung unterschiedlich zu verschiedenen Perspektiven so wichtig. So konnte ich ihn zu Wort kommen lassen. Für mich fühlte sich die Geschichte erst wie eine Geschichte an, als er dazukam. Das Dorf ohne ihn war nur eine Kulissenbeschreibung.

Timon wächst im Dorf auf, sein Vater zieht fort von ihm in die Stadt. Glaubst Du, dass er in der Stadt anders aufgewachsen wäre?

Mir ging es nicht um eine Stadt-Land-Dichotomie, sondern um etwas Allgemeineres, eine Art von Gnadenlosigkeit und um das Recht, seine eigene Geschichte überschreiben zu dürfen oder ihr ein neues Kapitel hinzuzufügen. Das ist auch in der Stadt möglich, vielleicht etwas anonymer, aber das Sich-gegenseitig-Beobachten spielt auch dort eine Rolle. Es sind viele Erfahrungen, die ich bei Vertretungen an Schulen mache, in das Buch eingeflossen. Was sich also im Buch ereignet, sind viel mehr Beobachtungen aus der Stadt. Hätte ich die Geschichte in der Stadt spielen lassen, wäre die Erzählwelt viel grösser gewesen und ich hätte mehr Zusammenhänge erklären müssen. Der Schauplatz Dorf verleiht der Erzählung eher den Charakter eines Theaterstücks: Alles ist kompakter und die Rollen sind schärfer profiliert. Antonia kann beispielsweise keine andere alleinerziehende Mutter auf dem Dorf kennenlernen. Ich habe die Geschichte also auch aus gestalterischen Gründen auf dem Dorf angesiedelt.

War es eine bewusste Entscheidung, in Deinem Roman keine Kapiteleinteilungen zu machen, sondern nur Absätze als Marker für den Wechsel der Erzählperspektive?

Anfangs wollte ich nach jedem Absatz eine neue Seite beginnen, aber mit diesem Mittel gelang es mir, die unterschiedliche Perspektivierung auf das gleiche Geschehen besser darzustellen. Ich habe mich da sehr am Film orientiert. Es war mir wichtig, alle Figuren zur Sprache kommen und ihre eigene Perspektive erläutern zu lassen. Nicht zuletzt konnte ich damit Timons Entwicklung aufzeigen. Kapitel wären da unnötige Brüche gewesen.

Valentin ist der Postbote im Dorf. Postboten kommt die Funktion zu, eine Botschaft zu überbringen. Welche Botschaft übermittelt Valentin?

Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, seine Botschaft bestünde in der Bereitschaft, Haltungen zu überdenken, sie sogar zu ändern. Für mich ist er als Briefträger (und auch als Lehrer) vor allem wichtig, da er viel weiss, alle kennt, die sozialen Mechanismen versteht, gleichzeitig aber ein Aussenseiter ist.

Er hat die Haltung, Dinge zu überdenken, schimpft aber nie mit Timon, der sich wiederholt renitent zeigt und hält sich aus der Erziehung raus. Wie kommt das?

Das ist sehr interessant, da diese Situation zeigt, wie hilflos Valentin eigentlich ist. Er meint es gut, nutzt Timon aber im Grunde aus. Er sieht in ihm einen Ersatzenkel und möchte diese Beziehung aufrechterhalten, um sich selbst zu bestätigen, weswegen er ihm alles durchgehen lässt. Beispielsweise als Timon ihm den Reifen aufschlitzt, dürfte er ruhig etwas sagen, da es offensichtlich ist, dass er es getan hat. Er verschliesst gerne die Augen, sogar vor sich selbst, was sicher ein Schutzmechanismus ist. Dabei bräuchte Timon jemanden, der ihm Grenzen setzt und ihm damit zeigt, dass er von Bedeutung ist. Das ist jetzt aber natürlich schon sehr pädagogisch (lacht).

Dein erstes Buch ist jetzt abgeschlossen. Hast du schon neue Projekte geplant, von denen du erzählen kannst?

Ich habe bereits vor etwas mehr als einem Jahr mit einem neuen Projekt begonnen. Die Idee hatte ich schon länger und ich arbeite momentan vor allem daran. Ich freue mich besonders auf diesen Sommer, da ich im Rahmen eines Stipendiums für drei Monate am LCB schreiben darf und mich ganz auf dieses Projekt konzentrieren kann. Gerade um Figuren entwickeln zu können, tut mir so eine intensive Schreibphase sehr gut. Das Thema des neuen Projektes hat sehr viel mit meiner eigenen Biografie zu tun, das ist schwierig. Zunächst habe ich begonnen, über eine Figur in der dritten Person zu schreiben. Das hat sich aber noch zu sehr nach mir selbst angefühlt. Dann habe ich es mit der Ich-Perspektive versucht, was mir erlaubt hat, Distanz zu der Figur zu schaffen. Viele Charakterzüge der Figur sind mir vertraut und dennoch bin es nicht ich. Das ist ein sehr spannender Effekt.

Philipp Theisohn meinte, ich müsse Dich unbedingt nach Erika Burkart fragen…

(Lacht) Aha. Also, Erika wurde 1922 geboren und ist 2006 gestorben. Sie würde also bald 100 Jahre alt werden. Sie war Lyrikerin und hat sich stark mit der Natur befasst, hat aber auch Romane geschrieben. Erika Burkart hat eine sehr spannende Position mit einer einzigartigen literarischen Sprache, und sie äusserte sich auch politisch sehr pointiert. Aber es wurde mit ihr etwas ganz Seltsames gemacht. Sie hatte lange, blonde Locken, später lange, weisse Locken, sah immer etwas entrückt aus. Damit verkörperte sie das stereotype Bild der Lyrikerin, was sich auch sehr stark auf die Rezeption ihrer Texte niedergeschlagen hat. Jetzt ist sie beinahe in Vergessenheit geraten. Mein Beitrag in der Fabrikzeitung ist eine Aufforderung, dass man sie wieder mehr beachten sollte, ihre Texte hervornehmen und genau anschauen. Sie war für mich immer die Lyrikerin der Schweiz. Einmal habe ich sie zum Literaturfestival in Thun eingeladen, da war sie aber leider kurzfristig verhindert. Sie wird oft als mythisch und sehr esoterisch beschrieben, weil sie viel über Übersinnliches schrieb und es ihr damit auch ernst war. Zugleich war sie aber eine unglaublich wache Zeitgenossin mit klaren politischen Haltungen. Entweder sie wird gar nicht rezipiert, oder aber extrem verniedlicht. Ich finde, Philipp Theisohn sollte ein Erika-Burkart-Symposium an der Uni Zürich veranstalten.

Das Gespräch führte Xenia Bojarski.

Tabea Steiner: Balg. 236 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2019, ca. 29 Franken.

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