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Beatboxenstopp

Der Meister seiner ureigenen Zunft ist zurück: Spoken Beats-Pionier Jurczok 1001 schraubt in seinem neuen Programm an einem Stern, der seinen Namen trägt: «J-U-R-C-Z-O-K». Die ausverkaufte Premiere im sogar theater geriet Anfang der Woche zum Triumphzug zwischen Walk of Fame und Talk of Shame.

Von Christoph Steier
24. November 2023

Der Mann steht seit bald dreissig Jahren auf der Bühne, und irgendwo auf einem Dachboden im Chreis Cheib steht vermutlich das Porträt, das an seiner Stelle altert. Ähnliches galt bislang für Jurczoks Werk, durch Atmung, Phrasierung, Rhythmus, Präsenz ohnehin untrennbar mit dem 1974 geborenen Performer verbunden: Jurczok geht immer; wen man hinschickt, kommt als Fan zurück. Stücke wie «Bahnhof», «Kaff» oder «D’Wältwuche» sind Klassiker der Modern Mundart, seine Performances hatten bislang meist den Charakter einer Werkschau, Jukebox 1001. Wer regelmässig hinging, konnte die voranschreitende Perfektionierung selbst kleinster Details auf der Bühne erleben; Einblicke in die akribische Text- und Inszenierungsarbeit hinter den oft im selbstironisch-lässigen Register angelegten Performances gab das 2018 erschienene Arbeitsbuch «Spoken Beats»

Zum Autor

Jurczok 1001, mit bürgerlichem Namen Roland Jurczok, geb. 1974 in Wädenswil (ZH). Jurczok erwarb das Lehrerdiplom für Atemtechnik und Stimmbildung und studierte Germanistik und Ethnologie in Zürich. Er ist Spoken Word-Künstler und Sänger und gehört zu den Spoken Word-Pionieren der Schweiz. Seit 1996 tritt er unter dem Namen Jurczok 1001 auf und war an zahlreichen internationalen Festivals zu Gast – solo oder seit 1998 im Duo mit Melinda Nadj Abonji. Seine Performance «Spoken Beats» zeigte er u.a. in Berlin, Moskau, Mumbai, New York und Philadelphia. Er lebt in Zürich.
Foto: © Shirana Shahbazi

Back ohne Backlist

Für sein neues Programm «J-U-R-C-Z-O-K» hat sich Jurczok nun allerdings zum völligen Verzicht auf seine überragende Backlist entschieden. Und auch die Beatbox hat weitgehend Pause; häufig werden Loops und Feedbackschlaufen nur angespielt und machen zügig Platz für die Texte, die an diesem Abend klar im Mittelpunkt stehen. Für die mit dem Werk Vertrauten dürfte das genügen, um das Echo früherer Performances als klanglichen Subtext zu installieren; einem allfälligen neuen Publikum wird Jurczoks Virtuosität als Sound-Performer an diesem Abend nur als kleiner Gruss aus der Küche serviert (exit through the gift shop…). Was vielleicht einen Hinweis darauf liefert, dass Jurczok diesen Boxenstopp eher einlegt, um mit seinem bisher gewonnenen Publikum noch einmal etwas grundsätzlicher ins Gespräch zu kommen.

Bomben in Wädi

Das beginnt an diesem Abend mit dem «Outing» als Sohn deutscher Eltern. Daraus hat Jurczok nie ein Geheimnis gemacht, dennoch dominierte in der Wahrnehmung seiner Bühnenfigur wohl eher die diffuse Vorstellung einer «osteuropäischen» Migrationsgeschichte. Den bis auf Spiel- und Fussballplätze der Zürcher Agglomeration in den 1970er Jahren zurückreichenden Gründen für diese teils bewusst, teils instinktiv getroffene Entscheidung für diese – letztlich rein klanglich eröffnete – Lesart seiner Herkunft geht Jurczok an diesem Abend eine Stunde lang nach.

Wie also wurde aus dem Kind eines ostpreussischen Vaters und einer bayerischen Mutter, die mit 20 in die Schweiz kam und innert zwei Jahren Schweizerdeutsch lernte (aber bis heute keinen Schweizer Pass hat), wie wurde aus dem deutschen «Secondo» Roland Christian Jurczok der Schweizer Mundartkünstler Jurczok 1001? Und vor allem: warum?

Eine erste Antwort gibt der abendliche Heim-Ruf des Vaters, einmal quer durch die Siedlung: «RRRoooland, AAAbendbRRRot», schallte es hoch- bis höchstdeutsch über den Spielplatz «wie ein Bombenteppich». Roland aus Roh-Land. Unter den anderen, den von «den Schweizern» folkloristisch geduldeten Ausländer:innen (Rezepte. Temperament. Tradition) der Siedlung ist das kein Riesenproblem, aber schon in der Schule beginnt die Schamzone: «I han öppis i dem Land sehr früeh kapiert: Es git da Schwiizer, Usländer und die Düütsche». Folgerichtig kommt es zur Ent-Christianisierung, aus Roland Christian wird, zunächst auf dem Fussballplatz, dann auf dem Schulhof, schliesslich auf der Bühne «Jurczok». Kein Allerweltsname, oder gerade doch. Hauptsache kein deutscher.

Flagge und Fanal

Unter dieser Flagge lässt es sich segeln, zumal die Mutter die beiden Söhne in Mundart grosszieht. Freilich nicht, ohne die feinen und weniger feinen Eskalationsstufen des Alltagsrassismus zu registrieren. Wird dem «Polen» Jurczok noch mit paternalistischem Wohlwollen begegnet, wenn er auf die schon übergriffige Frage nach der Herkunft (des Namens) eintritt, stellen sich die diskursiven Stacheln umgehend auf, kommt eine deutsche Herkunft überhaupt nur ins Spiel. Eine merkwürdig verkeilte Form von Intersektionalität, durch die der Junge zu manövrieren beginnt.

So präzise er in der Beobachtung der habituellen Anpassungen an das Minenfeld rassistischer Zuschreibungen ist, so formelhaft und zugleich tastend bleibt Jurczok, wo er den möglichen Gründen der Schweizer Deutschen-Aversion nachgeht. Hören die Eidgenoss:innen immer noch, wie Peter Bichsel in einem auf der Bühne zitierten Text von 1982 eher schamvoll eingestand, die Stimme Hitlers selbst in der des Freundes? Ist es die Erinnerung an das «Nazigold», die dem gern unterstellten germanischen Imperialismus (keine deutschen Fahnen in Schweizer Schrebergärten, s.v.p.) einen lästigen Hemmschuh überzieht? Oder einfach der sprachliche und sonstige Habitus, das Laute, Fordernde, Selbstgewisse?

Jurczok stellt diese Antworten in den Raum, erntet ein paar Lacher und eilt weiter. Denn nicht um das notorische «Auch Deutsche unter den Opfern» geht es an diesem Abend, sondern um die Frage, was ein Eigenname, pars pro toto für die Identität, in der spätmodernen Schweiz denn überhaupt noch bedeuten könnte. Und was sich daran ändern sollte.

Say my name

Was widerfährt einem Namen, der nicht Meier, Müller, Kryenbüel lautet? Da ist der Pfarrer, der bei der Abdankung trotz Hausbesuchs den Namen des verstorbenen Vaters kaum über die erste Silbe bringt. Da sind die Mails, die sich nicht einmal die Mühe des korrekten Abschreibens aus der Adresszeile machen. Die Reflexfrage nach dem Woher, seit wann, wie lange. Die auf den ersten Blick kleinen Verstümmelungen, Ergänzungen, Unachtsamkeiten. Da muss sich ein Niemand einen Namen wohl erst noch machen…

«Buchstabieren hilft», lautet ein Motiv des Abends, aber auch die Unschuld des Alphabets ist bald ausgetrieben. Buchstabiert «man» im Paradigma des Schweizer Tourismus, der Schweizer Schattenseiten, der deutschen Lauttafeln, ergibt sich ein je unterschiedliches Bild. Das Lachen bleibt dem Publikum bald im Halse stecken, als Jurczok seinen Namen auf diese mal amüsante, mal monströse Weise durchdekliniert. Auch diese Stockungen sind in «J-U-R-C-Z-O-K» Programm, scheint doch hinter der lautpoetischen Namenserkundung ein doppeltes Ethos auf: Zum einen die Utopie einer Zeit nach den Namen, Zuschreibungen, Herkünften, Abstammungen, Sippenhaftungen, Grenzen und sonstigen Sortiermaschinen. Einer Zeit, wo Mensch und Name erst einmal Raum greifen dürfen und bestenfalls selbst entscheiden, welche ihrer Schichten und Geschichten sie in diesem Raum mit wem teilen möchten. Zum anderen, praktischer und eng damit verbunden die Einsicht in die Notwendigkeit, all den Namen überhaupt erst einmal eine Stimme zu geben. Etwa in Form der Demokratie-Initiative, auf die der Erschöpfte am Ende der Zugaben noch einmal explizit verweist. Unterschriftensammeln statt noch ein letztes Mal den Namen abfeiern, auch ein Statement. Das in «Scheinbevölkerung» natürlich lässiger daherkam. Aber seitdem sind auch schon wieder mehr als sechs Jahre vergangen, in denen die Zahl der Stimmlosen weiter angewachsen ist.

Kunstpausen

Mit Glitches hat Jurczok lange vor Taylor Swift oder Adam Schwarz gearbeitet. Synkopen klanglicher, semantischer, aber auch gestischer Natur, die den gern bespielten Checker-Modus ironisch brachen, mal im Sinne Brecht’scher Verfremdung, mal als bewusster Webfehler, der die übrige Virtuosität umso heller strahlen liess.

Gegenüber früheren Performances ist das neue Programm indessen deutlich disruptiver. Jurczoks Flow ist noch da, aber er biegt oder bricht verlässlich ab, wo das Publikum ins Schunkeln käme. Das lässt sich in konsequenter Umsetzung der Texte lesen als Weigerung, weiter (nur) im Takt zu bleiben mit den alten Geschichten und Beats in einem Land, das vielleicht etwas zu lange an alten Geschichten und seinem vielbeschworenen Takt festgehalten. So gönnt der Meister der Kunstpause in seinem neuen Programm Teilen seiner Kunst eine Pause, und es sind diese Leerstellen, in die Rhythmusstörungen der Gegenwart darauf warten, beim Namen gerufen zu werden.

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