KW49

Über das allmähliche Verschwinden

stamm gerster

In seinem Erzählband «Wenn es dunkel wird» bestätigt Peter Stamm den Weg, den er mit seinen letzten Romanen eingeschlagen hat.

Von Katharina Alder
30. November 2020

Die Deplatzierten

«Sie sei unbedeutend, hatte Hubert gesagt, das war schlimmer, als wenn er gesagt hätte, sie sei hässlich oder dumm oder böse.» Bevor Sabrina den Künstler Hubert trifft, ist ihr Leben eigentlich ziemlich in Ordnung. Doch dann lässt sie sich dazu überreden, für eine Skulptur Modell zu stehen. Nach der Fertigstellung ihres aluminierten Ebenbilds erfährt sie, dass Hubert sie nicht wegen eines besonderen Ausdrucks, sondern aufgrund ihrer Beliebigkeit ausgewählt hat. Inmitten der Vernissage in ihrer Unscheinbarkeit und Belanglosigkeit blossgestellt, muss sie erkennen, dass ihre Durchschnittlichkeit in Form des Kunstwerks nun für alle Ewigkeit festgehalten sein wird.

Wie Sabrina ergeht es den meisten Figuren in Peter Stamms Erzählungen. Das permanente Übersehenwerden und Deplatziertsein führt als grosses Leitthema durch das ganze Werk. Ein namenloser Fast-Pensionär bekommt von seinem Umfeld vermittelt, nicht mehr als gewöhnlich, ja austauschbar zu sein. Während den letzten Tagen in der Firma wird er von seinen Kolleginnen überhört und ignoriert. Ob er überhaupt noch hier oder schon fort ist, scheint niemanden zu interessieren. Dennoch hält er an der Vorstellung fest, ein unverrückbares Teilchen in einem komplexen System zu sein, bis ihm klar wird, dass seine Arbeit ein ganzes Leben lang überflüssig war. Die Erzählung spitzt sich gleich einer Tunnelfahrt zu einer Geschichte eines allmähliches Verschwindens zu und wird zunehmend in surreale Sphären manövriert.

Bewusstseinsverschiebungen

Diese fantastische Komponente fügt Stamm fast allen Erzählungen bei. Die Geschichten oszillieren dabei zwischen Realität und Imagination. Anstatt aber einfach ins Fantasieren zu verfallen, spielt Stamm mit Verschiebungen des Bewusstseins und Überlagerung der Figuren, so wie man es aus seinen zuletzt erschienenen Romanen kennt. So wird Familienvater Georg auf der Fahrt in die Skiferien von seiner verärgerten Ehefrau auf einer Raststätte zurückgelassen. Ohne Auto, ohne Gepäck und ohne Kinder steht er da, befreit von allen Fesseln, den Ausstieg aus dem festinstallierten Alltag in Griffnähe. Wie schon der Protagonist in Weit über das Land wird Georg durch eine niedrige Begebenheit aus dem Trott geworfen. Ohne zu zögern begibt er sich auf die Irrfahrt durch die Einöde, wo ihm wie im Traum ein Schulhaus erscheint und die Geschichte eine krude, aberwitzige Wendung nimmt.

Zur Person

Peter Stamm, geboren 1963, lebt in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» (1998) erschienen 8 weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018), «Das Archiv der Gefühle» (2021) und «In einer dunkelblauen Stunde» (2023), dessen werkpoetischen Kontext die im gleichen Jahr veröffentlichte Mockumentary «Wechselspiel» von Georg Isenmann und Arne Kohlmeyer bildet. Im November 2023 hatte Stamm die Zürcher Poetikdozentur inne.
Foto: © Gaby Gerster

Generell wartet Peter Stamm in Wenn es dunkel wird mit neuartigen Stimmungen und ungewohntem Material auf. So bedient er sich aus einem reichen Atmosphärentopf, jongliert zwischen Liebes- und Geistergeschichten, gibt bisweilen einen Hauch Esoterik dazu und wechselt innerhalb von Sekunden das Genre. Insbesondere das Unheimliche schleicht sich wiederholt in die Erzählungen – dass der Autor Edgar Allan Poe mag, ist unüberlesbar. Am meisten drängt sich aber die zunehmend novellistische Anlage seines Erzählens in den Vordergrund. Die Figuren offenbaren im Lauf der Erzählung Unerwartetes, vollziehen Unerhörtes, so wie die junge Grafikerin, die direkt aus dem See nackt auf das Partydeck steigt, wie der gefallene Broker, der sich im Hotelzimmer des Grand Hotels Dolder verschanzt oder wie der Pensionär, der in seiner Unscheinbarkeit beschliesst, seine Lebensmitteleinkäufe ab sofort nur noch zu klauen. Merkt ja sowieso keiner.

Schönheitsfehler

Stamm provoziert wiederholtes Erstaunen ob des Potentials seiner Figuren. Diese sind wie gewöhnlich skizzenhaft gezeichnet und entfalten sich vorallem durch geschaffene Leerstellen. Seltsamerweise finden sich aber hier und da etwas holprige Informationseinschübe resp. Erklärungen zu Figuren – die nicht nötig wären, denn gerade bei Stamm erspürt man deren Silhouette problemlos durch den Text. Er agiert stark, wenn er auf Explizites verzichtet. Reflexivität steht seinen Gestalten aber nicht. Vielleicht findet dieser Schönheitsfehler auch in der etwas romantischer daherkommenden Sprache seinen Grund. Stamm formuliert vermehrt aus, schreibt längere Sätze als gewöhnlich. Aber gerade der Einstieg in die Titelgeschichte «Wenn es dunkel wird» demonstriert, wie er durch nüchternes, detailreiches Konstatieren aus einem schwarzen Raum eine lebendige Szenerie herbeizuschreiben vermag.

Erwartungsgemäss sind nicht alle Erzählungen von derselben Qualität. Einige wenige Geschichten bleiben etwas blass und erleiden das Schicksal ihrer Figuren, die in ihrer Beliebigkeit aus dem Bewusstsein verschwinden. So bleibt die katalanische Wahrsagergeschichte nebulös und letzlich belanglos. Die Story um Dietrichs Knie ist zwar auf einem witzigen Einfall aufgebaut, doch Stamm glückt es nur dank seiner sprachlichen Souveräneität knapp am Glattauerschen Mailroman vorbeizuschrammen. Die Mehrzahl der novellesken Erzählungen aber überzeugen. Sie sind creepy und schräg, manchmal etwas sentimental und zuweilen ein bisschen arg rührselig. Nichtsdestotrotz ist fast nichts schöner zu lesen, als Stamms belanglose Alltagshandlungen, die an Spannung kaum zu übertreffen sind.

Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. 192 Seiten. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2020, ca. 30 Franken.

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