KW46

Drinnen vor der Tür

Das Romandebüt «Feuerlilie» der Bündnerin Gianna Olinda Cadonau erzählt von Kálmán und Vera, zwei versehrte Figuren aus völlig verschiedenen Lebenswelten, die sich in einem Bergdorf ihren Ängsten zu stellen beginnen.

Von Anna Larcher
17. November 2023

Wie über Kriegstraumata und psychische Krankheiten schreiben? Gianna Olinda Cadonau wagt sich in ihrem Romandebüt Feuerlilie an die ganz grossen Themen ran. Die zwei Hauptfiguren, Vera und Kálmán, kommen als Fremde in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf an. Vera will an ihrem Artikel über rätoromanische Literatur arbeiten; Kálmán möchte lernen, mit seinen Kriegserinnerungen zu leben. Ihre Wege kreuzen sich immer wieder, anfangs zufällig, doch mit der Zeit verabreden sie sich. Zusammen spazieren sie durchs Dorf, trinken einen Kaffee in der «Beiz» und (sehr) oft schweigen sie. Ganz sanft nähern sie sich einander an und zeigen dem jeweils anderen ihre Blessuren.

Immer dasselbe, ich stehe irgendwo in diesem Haus und starre Türen an. Wäge ab, in welches Zimmer ich hineinkann, in welches ich als Nächstes hineinmuss (…) Noch komme ich nirgends unbeschadet wieder raus. Aber ich habe Zeit. Nur deswegen bin ich hergekommen.

Kálmán erinnert sich in einem selbstauferlegten und in Eigenregie durchgeführten Versuch der Konfrontationstherapie zurück an seine Zeit in Gefangenschaft. Sowohl physisch als auch psychisch trägt er davon bis heute tiefe Narben. Um welchen bewaffneten Konflikt es sich handelt, bleibt dabei unklar. In schlechten Momenten reisst es ihn zurück: Er spürt den Blick seines Peinigers, der «Offizier», immer noch auf sich, sieht auf dem Küchentisch Linien – Gitterstäbe? –, wo keine sind, und ängstigt sich, die Türen im oberen Stockwerk zu öffnen. Dahinter lauern die schwarzen, traumatischen Erlebnisse. Nehmen die Flashbacks Überhand, wird er von Schweissausbrüchen übermannt, muss sich übergeben oder uriniert auf den Boden. Das Leitmotiv der Türen schlägt die Verbindung zu einer weiteren Figur: Veras ältere Schwester Sophia, die an einer psychischen Krankheit leidet und zum wiederholten Mal in einer Klinik beherbergt ist. Sie sucht nach Türen, nach «Hintertüren», durch die sie in neue Welten und Erfahrungen eintreten kann.

Zur Autorin

Gianna Olinda Cadonau, geb. 1983 in Panaji (Indien), wuchs im Scuol (Engadin) auf. Nach einem Studium der Internationalen Beziehungen in Genf und Kulturmanagement in Winterthur, ist sie nun bei der Lia Rumantscha für die Kulturförderung verantwortlich. Zudem engagiert sie sich im Kulturbereich des Graubündens, u. a. als Literaturvermittlerin. Cadonau schreibt Prosa und Lyrik sowohl auf Rätoromanisch als auch Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände von ihr in der editionmevinapuorger, «Feuerlilie» (2023) ist ihr erster Roman.

Eine Metaphorik, die mit Türen spielt, verspricht eine Geschichte mit Verborgenem und verschiedenen Ebenen. Die Jury der Studer/Ganz-Stiftung sieht dieses Versprechen insofern eingelöst, als es sich ihrer Meinung nach um einen vielschichtigen Roman handle. 2022 zeichnete die Stiftung Cadonaus Manuskript mit der renommierten literarischen Auszeichnung aus. Wie der Text in einprägsamen und gezielt gewählten Bildern über Kálmáns Kampf mit seinem Trauma erzählt, überzeugt tatsächlich – beachtlich bei einem solch schwierigen und delikaten Thema. Ansonsten setzt der Roman auf reduzierte Sprache in parataktischem Stil. Allerdings rufen die kurzen Sätze bei den Leser:innen von Feuerlilie ein dauerndes Gefühl von «Achtung, ich bin nur die Spitze des Eisberges!» hervor, ohne jedoch ein nachhallendes Gefühl dafür zu vermitteln, was unter der Oberfläche schlummert. Denn auch die Informationsvergabe in Alltagsbeschreibungen bleibt ausgesprochen reduziert, so etwa beim Besuch der grösseren Ortschaft im Seitental, wo Vera und Kálmán erst «schweigend» hinfahren, es dort aber «nichts» für sie gibt und die Ortsbeschreibung sich darauf beschränkt, dass es hier «anders» aussehe, «nicht wie in unseren Dörfern im Tal.» Dieses Darstellungsverfahren wiederholt sich, wenn Veras Arbeit am Artikel skizziert wird.

Dadurch kippt das Ungefähre, Angedeutete leider schnell ins Belanglose, sodass im weiteren Romanverlauf die schwere Metaphorik im uneleganten Kontrast zu der reduzierten Sprache steht. Besonders deutlich wird dies in den ersten Annäherungsgesprächen zwischen Vera und Kálmán:

Könntest du die Türen nicht offen lassen? Zumindest einen Spalt? Er sieht mich kurz an, dann schaut er auf den Tisch, schluckt. (…) Als ich nach dem letzten Schluck Kaffee die Tasse absetze, schaut er mich an. Er schaut, als ob er über mich nachdächte. Ich denke an die Türen. Ob er sie wirklich offen lassen könnte? Was sie wohl bedeuten, diese Türen, offen oder verschlossen? Mir wird ein bisschen mulmig, und ich lächle. Sein Gesicht entspannt sich, er schaut wieder auf den Tisch und nickt leicht. Wir bezahlen und gehen.

Dem vagen Erzählprinzip folgend verzichtet der Roman – glücklicherweise – auf einen eindeutigen oder gar belehrenden Schluss. Denn Kálmáns Kontakt zu Vera und ihrer Schwester Sophia bedeutet für ihn keine Heilung, wenn auch Linderung. Der Roman endet, wo er anfängt, am Bahnhof des Dorfes. Die Figuren stehen gewissermassen wieder am Anfang einer nächsten Entwicklung, die Türen sind weit geöffnet.

Gianna Olinda Cadonau: Feuerlilie. 223 Seiten. Basel: Lenos Verlag 2023, ca. 26 Franken.

Weitere Bücher