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Entscheidende Züge

Angelika Overaths neuer Roman «Unschärfen der Liebe» ist eine Liebeserklärung an das Reisen per Zug, das nicht selten eine Reise zu uns selbst ist. Isabelle Hausmann hat das Buch, mit dem die deutsch-schweizerische Autorin nach 2009 zum zweiten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, für uns gelesen.

Von Isabelle Hausmann
23. Oktober 2023

Am Bahnhof Chur steigt ein junger Mann in den Zug, um zurück in seine Heimatstadt Istanbul zu reisen. Sein Name ist Baran, und seine Reise wird mehrere Tage dauern. Unbeschwert geniessen kann Baran diese Fahrt nicht: Er ist hin- und hergerissen. In Istanbul wartet ein Mann, sein Lebenspartner. Und da ist eine Frau, mit der er die letzten Tage im Graubünden verbracht hat. Mit wem von den beiden will er sein Leben in Zukunft teilen? Die Entscheidung könnte sein Leben komplett auf den Kopf stellen.

Zur Autorin

Angelika Overath, geb. 1957 in Karlsruhe, studierte Germanistik, Geschichte, Italianistik und Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen. 1986 promovierte sie über «Das andere Blau. Zur Poetik einer Farbe im modernen Gedicht». Overath ist als Publizistin (FAZ) und Schriftstellerin sowie Dozentin (MAZ, Schreibschule Sent) tätig. Ihren ersten Roman, «Nahe Tage. Roman in einer Nacht», veröffentlichte Sie 2005 bei Wallstein. Overath wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, so etwa mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für ihre literarischen Reportagen. Mit «Unschärfen der Liebe» veröffentlicht sie ihren fünften Roman und wurde damit für den Deutschen Buchpreis nominiert. Overath lebt in Sent, Graubünden.

Wir begleiten Baran auf seiner Fahrt von Chur über Österreich, durch das ehemalige Jugoslawien, durch Bulgarien, bis hin zum Schwarzen Meer, in die Stadt am Bosporus. Und während der Zug sich gemächlich durch Gesteinsschluchten und kleine Dörfer schlängelt, beginnen auch Barans Gedanken zu wandern. Wir erfahren mehr über seine Vergangenheit, haben Einblick in seine Kindheit und andere persönliche Erinnerungen, und tauchen ein in die historischen Verstrickungen der Orte, die Baran durchfährt.

Die deutsche, seit Langem in der Schweiz lebende Schriftstellerin Angelika Overath hat bereits diverse Romane veröffentlicht. Auch Lyrik schreibt sie. Als Journalistin schrieb sie Reisereportagen, unter anderem für das Magazin Geo. Der genaue Blick der poetischen Reporterin spiegelt sich hier vor allem in Landschaftsbeschreibungen wider. Einen Grossteil der Strecke hat die Autorin selbst bereist. Entsprechend genau fallen ihre Beobachtungen aus:

Schrebergärten unter Felsen. Ein bespielter Tennisplatz, Schatten auf rotem Sand. Gesteinswände, feucht und nah, als könne die ausgestreckte Hand sie berühren. Baran sah ihren Glanz und roch ihre Kälte.

Overath hat auch ein Gespür für das Nebensächliche, das sie auf unkonventionelle Weise zu beschreiben weiss: Auf einem Marktstand, irgendwo im fremden serbischen Hinterland, werden aufgeschichtete rote Paprikas zum «Lackhügel». Und ein Gebirgszug wird zum «aufgestellten Kragen». Das Vertraute wird fremd, das Fremde vertraut: Was es heisst, dazuzugehören und auch: sich fremd zu fühlen? Genau diesen Zwischenzustand mag Baran am Zugfahren so sehr:

Unterwegs war er noch nirgendwo und musste niemand sein.

Das Buch ist nicht nur eine Liebeserklärung an das Zugfahren. Es ist auch ein Plädoyer für das langsame Reisen. Das steht bei Overath sinnbildlich für den Prozess, den man als Mensch durchmacht, um eine Entscheidung zu treffen. Das langsame Reisen erlaubt, die Veränderungen in der Landschaft mitzuerleben– und dabei vielleicht eine unerwartete Einsicht zu gewinnen. Nicht zuletzt weckt Overath bei ihren Leser:innen vielleicht die Lust, diese Route einmal selbst zu befahren.

Angelika Overath: Unschärfen der Liebe. 224 Seiten. München: Luchterhand 2023, ca. 31 Franken.

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