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Auf unsicherem Grund

Incardona

Peter Stamms prämierter Roman verwischt in einer komplexen Erzählanordnung die Grenzen von Realität und Zeit und variiert damit die Kernsujets seines literarischen Oevres: Existenz, Freiheit und Identität. Dem alten Anstrich und der unterkühlten Nüchternheit zu Trotz überzeugt die Erzählung durch ihr gewieftes tiefenpsychologisches Spiel.

Von Fabienne Suter
14. Dezember 2018

Als «vertracktes Spiegelkabinett» und «Labor» oder gar «Versuchsanordnung» wird Peter Stamms neuster Roman bezeichnet, der im November mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde. Dies, nachdem Stamm bereits zwei Mal nominiert gewesen war und sich das Erscheinen seines Debütromans «Agnes», zu dem «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» unübersehbare Parallelen aufweist, zum zwanzigsten Mal jährt. Auch diese Erzählung arbeitet mit einer komplexen Verflechtung von Zeitebenen und Figurenbiographien und spielt gekonnt mit den Möglichkeiten narrativer Verfahren. Was resultiert, ist eine durchstrukturierte Erzählung, in der während eines Spaziergangs ganze Lebensentwürfe auf den Kopf gestellt werden.

«Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen», schreibt Christoph an Lena. Während sie durch die Strassen von Stockholm spazieren, erzählt der Schriftsteller von seiner Begegnung mit Lenas Freund Chris. Dessen Leben scheint auf verblüffende Weise in fast exakt denselben Bahnen zu verlaufen wie Christophs – ein Doppelgänger, inklusive derselben Lieblingsorte, derselben Handschrift und fast derselben Beziehung. Denn Lena scheint ebenfalls ein zeitlich versetztes Ebenbild zu sein, nämlich das von Magdalena, der ehemaligen Geliebten Christophs. Schuld an der damaligen Trennung war ein von ihm verfasstes literarisches Porträt seiner Freundin: «Zum ersten Mal hatte ich beim Schreiben gespürt, dass ich eine lebendige Welt erschuf. Zugleich entglitt mir die Realität immer mehr». Mit der Auflösung der Grenzen zwischen literarischem Abbild und Realität war denn auch Magdalena verschwunden.

Zum Autor

Peter Stamm, geboren 1963, lebt in Winterthur. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» (1998) erschienen 8 weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018), «Das Archiv der Gefühle» (2021) und «In einer dunkelblauen Stunde» (2023), dessen werkpoetischen Kontext die im gleichen Jahr veröffentlichte Mockumentary «Wechselspiel» von Georg Isenmann und Arne Kohlmeyer bildet. Im November 2023 hatte Stamm die Zürcher Poetikdozentur inne.
Foto: © Gaby Gerster

Der Roman präsentiert eine komplexe Anordnung, die auf verschiedenen Ebenen mit der Dichotomie von Flüchtigkeit und Stabilität spielt. Auf der Erzählebene fliessen sowohl die Zeit als auch die Erzählperspektiven ineinander über, was sich in der Handlung widerspiegelt. Christoph merkt, dass seine Erinnerungen ihn täuschen, noch während des Spazierganges formt sich seine ganze Lebensgeschichte von neuem. Sobald er sich in Form eines Buches an dem scheinbar stabilen Medium der Schriftlichkeit festhalten will, verschwindet dieses entweder in den Untiefen des Internets oder in einer Stockholmer Kneipe. Immer weiter versetzt sich Christoph in seinen Doppelgänger hinein, wodurch sich seine eigene Identität verflüssigt. So werden auch wir Lesenden zu den Fragen angehalten, inwiefern unsere Erinnerungen identitätsstiftend sind, ob wir uns auf sie verlassen können und ob die Entwicklung in eine immer stärker vernetzte Welt auch zwangsläufig mehrere Persönlichkeiten erfordert. Würden wir mit einer materialisierten Gegenversion unserer narrativ zurechtgelegten Erinnerungen konfrontiert werden wollen?

Dieses Labyrinth aus Erzählstrukturen und grossen Fragen wird durch eine schlichte, schnörkellose Sprache kontrastiert. Sie lässt die Komplexität der Handlung in den Vordergrund rücken, erzeugt jedoch auch eine Distanz, die eine Identifikation mit den Figuren erschwert. Der tiefgreifenden psychologischen Thematik steht ein karger Duktus gegenüber, der zuweilen von kitschig anmutenden Formulierungen unterbrochen wird. Es stellt sich die Frage, ob diese nüchterne Sprache der differenzierten Figurencharakterisierung gerecht werden kann.
Alles in allem ist Peter Stamm ein raffiniert konzipierter Roman gelungen. Betrachtet man ihn jedoch im Zusammenhang Stamms früherer Werke, fällt auf, dass der Autor nur wenig Experimentierfreude hat walten lassen. Auf ähnlich unfassbare, flüchtige Frauenfiguren wie Magdalena treffen wir auch in «Sieben Jahre», «Blitzeis» und «Ungefähre Landschaft». Auch die Problematik der Identitätsbildung durch Erinnerungen, der Willensfreiheit und des Doppelgängermotivs wurden literarisch bereits ausführlich durchgespielt. Trotz seiner mangelhaften Originalität glänzt der Roman aber durch ein dichtes Netz an Anspielungen und Reflexionen, die weit über die eigenen Grenzen hinausreichen. «Ein Ende haben Geschichten nur in Büchern», lässt Peter Stamm Christoph sagen. Dies kann man für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wirklich nicht behaupten.

Peter Stamm: Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. 160 Seiten. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2018, ca. 29 Franken.

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