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Das Trio der Guillotinierten

Der neue Stückeband von Lukas Bärfuss versammelt die Dramen «Luther, Frau Schmitz und Julien» und arbeitet dabei literarisch subversiv mit absenten Präsenzen. Die Köpfe, die dabei rollen, rollen intelligent und engagiert und kullern hie und da – vielleicht deswegen – auch an der politischen Relevanz vorbei.

Von Severin Lanfranconi
24. Januar 2022

Lukas Bärfuss nannte seinen Lektor Thorsten Ahrend einen «der letzten Verrückten, die Stücke drucken – und sie auch noch verkauft». Aus der Schnapsidee wurde eine Erfolgsgeschichte: Seit 2005 erscheinen regelmässig Bärfuss-Stücke im Wallstein-Verlag und seit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2019 an Bärfuss ist die Vermeidung der Floskel «meistgespielter deutschsprachiger Dramatiker der Gegenwart» endlich einfacher geworden. Mit ein Grund für Bärfuss‘ Erfolg im Theatergenre, das beweist diese Ausgabe erneut: Die Stücke finden in jedem Stoff mit geübten Handgriffen die lustvoll-eindrückliche Bühnenszene, kalkulieren damit nicht nur den dramatischen Augenschmaus fürs Publikum und kitzeln wahrscheinlich ebenso fachkundig die Spielfreude der Schauspieler:innen, sondern bieten bereits beim Lesen scharfsinniges literarisches Vergnügen.

Poetik de Capo

Allesamt Auftragswerke für verschiedene Theaterorganisationen, feierte Luther erst noch im vergangenen Juli an den Nibelungenfestspielen Worms Premiere. 2020 wurde Julien, eine Theateradaption des Romans Rot und Schwarz von Stendhal, am Theater Basel uraufgeführt und die komische Groteske Frau Schmitz 2016 am Zürcher Schauspielhaus. Fans der berühmt-berüchtigten Rundumschlag-Polemiken in Bärfuss‘ Zeitungsessays dürfen verfrüht jubeln: Es wird auch vollstreckt und nicht nur angeklagt, denn Bärfuss lässt literarisch heimlich längst und im grossen Stil die Köpfe rollen! Nicht nur wortwörtlich wie in Luther, wenn Joachim, Kurfürst von Brandenburg, eben mal im ersten Akt die frisch enthaupteten Schädel Lindenbergs und seiner Brüder und Söhne auf der Bühne auskippt, auch akut drohend wie in Julien, wenn im dritten Akt der Protagonist Julien Sorel in Kerker und Wachtraum seiner Enthauptung entgegenirrlichtert. Nein, selbst in Frau Schmitz bekommt ebendiese Schmitz von ihrem alles andere als «glasklar» sehenden Stalker was ins Gesicht gepfeffert. Zwar nicht das kurfürstliche Schwert, aber immerhin ein zersplitterndes «Flügelglas aus Venedig». Weitere Operationen werden noch die Gesichtsnarben entstellen. «Es geht um deinen Kopf» pointiert Schmitz‘ Personalerin Mara dramatisch-ironisch also gleich den gesamten Stückeband, wenn sie auch vordergründig nur die Macho-Mentalität eines Projektleiters meint.

Ja, bei Bärfuss scheint sich tatsächlich alles um den Kopf zu drehen, jenen mit festem Sitz auf dem Hals, den kühlen und jenen, der eben diesen Halt verliert, sowie den kopflosen; es geht um die anwesenden oder verkopften, um die vielleicht auch nur gedanklich abwesenden Köpfe, die fehlenden, die in einer Gesellschaft vermissten, ersehnten, die dringend benötigten. Das poetische Potenzial ist unerschöpflich, wenn gerade die gekappt rollenden Häupter auch im metaphorisch-metonymischen Sinn eine Rolle spielen, schliesslich ist Theater Körpereinsatz, die Köpfe der Schauspieler:innen, des Lese- und Theaterpublikums sind mit von der Partie.

Luther, der päpstliche Elefant

Dem Historiendrama Luther glaubt man den Auftragscharakter am meisten, ganz nach dem Werkstattmotto «Know your audience!» Der Autor greift bewusst auf das zurück, was sich schon öfters bewährt hat: Hier sind das vorallem der unvermittelt drastische Einbruch unverhohlener Brutalität und verbaler Vulgarität, teils mit Tarantino-Vibe, das zentrale symbolträchtige Tiermotiv (Papst Leos Elefant Hanno), um das der Stückgehalt kreist, und die vorwiegend schnörkellose Prosa entlang beflissen recherchierten Fakten. Das alles hält, was es verspricht, überrascht aber auch nicht mit etwas, womit man nicht gerechnet hätte. Ganz anders der eine Einfall, die titelgebende Figur nicht auftreten zu lassen. So manifestiert sich die Lutherfigur, strikt gemäss Sola scriptura, nur durch das Wort, die Luther-O-Töne im bekehrten Sprechen Elisabeth von Dänemarks. Dieser Einfall trifft für die Debatten um die aktuelle, historisch aufgeklärte Bedeutung des Reformators, wie sie zum Beispiel während der Luther-Dekade zum 500. Jahrestag des Thesenanschlags geführt oder vermisst wurden, den künstlerisch-kritischen Ausdruck. Denn Bärfuss‘ Luther ist immer auch etwas päpstlicher Elefant. Es bleibt insgesamt zu wenig Poiesis bei soviel Mimesis, der Eindruck, die Szenen versuchten einen historischen Lexikonartikel möglichst detailliert auszuschildern, evoziert dann paradoxerweise doch die Drögheit vieler mythifizierender Historienfestspiele, der das Stück eigentlich entkommen sollte. Bärfuss, der jüngst die Schweizer Pandemie-Mentalität als Rückfall ins «geistige Réduit» kritisierte, wird wohl auch um die künstlerische Fatalität einer Literatur geistiger Landesverteidigung wissen, um die bis heute nicht wiedergespielten Historienfestspiele eines Cäsar von Arx.

Zum Autor

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun. Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in über 20 Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. 2019 wurde er für sein Werk mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg

Raffinierte Travestiespiele

Das Oszillieren der abwesend-anwesenden Protagonisten erlangt in Frau Schmitz eine künstlerische Brillanz und Perfektion. Frau Schmitz bleibt schweigsame Präsenz und Projektionsfläche für die anderen Figuren. Sie kleidet sich je nach ökonomisch-strategischer Notwendigkeit als Mann oder Frau. Operativ zur Frau angeglichen und nach der Glasattacke passt ein absurd-grotesker Eingriff plastischer Chirurgie ihre Gesamterscheinung den Narben des misogynen Gewaltakts an und verleiht Schmitz‘ Äusseren eine ausgeprägte Virilität. Bei der Aufführung in Zürich wurde das als heiter groteske Lachkomödie mit etwas Travestie und Transgender-Thematik verharmlost und missverstanden. Beim Lesen wird klar: Hier müsste eine Inszenierung, statt auf das versöhnliche und heitere, das Normen restituierende Lachen abzuzielen, das Publikum dazu bringen, sich das kopfinwendige Hirn bis zur Verzweiflung darüber zu zermartern, was es da überhaupt auf der Bühne sieht: Frau Schmitz wird als Transfrau etabliert, aber nur, weil sie von allen (selbst vom Stücktitel) als Frau bezeichnet wird. Weder wehrt sie sich gegen diese Zuschreibung, noch nimmt sie sie – trotz der Schlusspointe «Ich in Pakistan. Als Frau» – explizit an. Schmitz‘ Geschlechtsidentität bleibt eine unentscheidbare Leerstelle, wofür nicht zuletzt das Cross-Casting sorgt, das auch bei der Lektüre mitgelesen werden sollte: «Die Rolle der Frau Schmitz wurde in den Szenen 1 bis 34 von Friederike Wagner, in den Szenen 35 bis 37 von Lambert Hamel gespielt», merkt Bärfuss an. Dieser Tausch tritt überraschend nicht nach der Geschlechtsangleichung ein, sondern nach der absurden Schönheitsoperation und kodiert den männlichen und weiblichen Schauspieler:innenkörper durch den sexistischen Gewaltakt mittels Flügelglas. Verkörpert die Schauspielerin Schmitz‘ Zustand vor ihrer grotesken Maskulinisierung, steht der Schauspielerkörper für das Entstellte danach. Der männliche Körper symbolisiert so die Spuren des männlichen Hasses schlechthin. Es ist ein exzessiv-groteskes Zerrspiegel-im-Spiegel-Spiel, eine Mise en abyme zweiten oder bereits dritten Bühnengrades, die zur eigentlichen dramatischen Entwicklung wird, obwohl es einen Spannungsbogen bildenden Handlungskonflikt in diesem Stück gar nicht gibt – und geben muss. Spätestens wenn beim Lesen der imaginäre Lambert Hamel als verkörperte hate speech und Gender-Mysterium gleichzeitig auftritt, sollte das Grauen der Groteske das heitere Lachen ersticken. Diese Travestie ist zu komplex, um nur Klamauk oder Zirkusattraktion zu sein. Vielmehr kommentiert sie, wie in gewissen Kontexten eine oberflächliche Travestie riskiert, Heteronormativität mehr zu verfestigen, als zu erschüttern.

Transsubstantiation der Figuren

Über die drei Stücke Luther, Frau Schmitz, Julien ereignet sich eine sukzessive figurendramatische Transsubstantiation: Fehlt Luther gänzlich, verkörpert nur im historischen Zitat, ist Schmitz in ihrer Geschlechtsidentität und Bühnenpräsenz eine körperlich unmittelbare Abwesenheit. Da tritt zuletzt endlich Julien Sorel als dialogisch aktive, streitende und intrigierende Figur auf den Plan. Eine Figur, die bereits in der Romanvorlage von ambivalenten Motiven getrieben ist und letztlich trotzdem in ihrer Identität noch umfassender als Frau Schmitz widersprüchlich bleibt. Zur Zeit der Französischen Restauration schlägt sich Julien, Sohn eines gewalttätigen Sägemühlenbesitzers, vom einfachen Hauslehrer aus der Provinz bis nach Paris durch und verkehrt dort bald in höchsten Adelskreisen. Er erleidet, nachdem er – im Affekt oder mit Vorsatz? – auf seine frühere Geliebte schiesst, den sozialen Abstieg aus denselben unbestimmten Gründen, aus denen er einst aufgestiegen war. Selbst das natürliche Talent Sorels, die Bibel im richtigen Moment auswendig aufsagen zu können, bleibt letztlich ein leeres Wissen.

Verständlicherweise muss Bärfuss‘ Bühnenfassung des rund sechshundertseitigen Stendhal-Romans Rot und Schwarz bei mancher szenischen Zurichtung ein gar blutiges Fallbeil schwingen. Fraglich bleibt, warum hier Bärfuss nicht dramaturgische Mittel wählt, um den immer wieder spannungsgeladenen Verschränkungen der erzählerischen Innen- und Aussenperspektivierung des Romans entgegenzuwirken. Nicht immer gelingt die dramatische Übersetzung. Wenn zum Beispiel der betrunkene Bürgermeister de Rênal die Gartenaxt, die Guillotine der gutbürgerlichen Provinz und für die Ehefrau gefährlich, in den Händen hält, transportiert das visuell bereits sehr viel von dem, was der Roman über mehrere Seiten als höchst wankelmütige Figurenrelationen webt. Manchmal wirkt eine Szene hölzern, wenn sich das dramatische Figurenbewusstsein über sich selbst und noch über jenes der Romanfiguren erheben muss, nur um mit sehr viel Reflexionsgabe und Selbstbewusstsein eine verrätselt bewusstlose Innerlichkeit zu behaupten und zu beteuern. Rameaus Les Soupirs als wiederkehrendes Hintergrundgeplänkel, das «langsam auf die Nerven» geht, abzuspielen, ist dann nicht unbedingt die grossartige Idee, ausser man möchte gezielt ein Hören nähren, das Vivaldi auch nur in der Fernsehwerbung erträgt.

Kopf-Austausch-Maschinen

Insgesamt fasziniert, wie Bärfuss das Vordergründige im Hintergründigen und das Hintergründige im Vordergründigen herauskehrt. Wird Altes enthauptet, emergiert dahinter bereits Neues ästhetisch-performativ. Man könnte meinen, Bärfuss‘ Stücke seien nichts anderes als Kopf-Austausch-Maschinen, geraten sie doch manchmal in der mechanischen Präzision tatsächlich etwas kopflastig. Man wünscht sich Sand im Getriebe. Die Suche nach der Verquickung von Literatur und Engagement ist, was in Bärfuss‘ Schaffen immer wiederkehrt und durch den Büchner-Preis zurecht gewürdigt wurde. Wer sich – so paradox es klingen mag – von Bärfuss doch noch immer etwas mehr politische Relevanz erhofft, wem bei allem Engagement mit und abseits der Literatur noch immer das Politische im Literarischen fehlt, dem kann man für zukünftige Lektüren getrost zurufen: Halte nach den Werkzeugen Ausschau! Insbesondere nach den scharfen Klingen und Kanten im Allgemeinen, nach den Schwertern, Scherben, Säbeln, Äxten, Hackebeilen und Guillotinen und lies genau, wessen Schädel da rollen sollen. Literarisch-politisch interessant sind immer die sich pluralisierenden Hydren, die sich von den einfachen Identitätszuschreibungen nicht mehr festlegen lassen, zukunftsweisende, deren literarische Gestalt zu einem anderen Verständnis und einer anderen Wahrnehmung drängt. Da will man am liebsten gleich Lukas Bärfuss selber sein, ihn, aber auch seine Kritiker und Verehrer schon mal vorsorglich ermahnen, am besten mit seinen eigenen Worten, die jene Elisabeth von Dänemarks sind, die Luthers sind: «Euer allergnädigste Majestät / und fürstliche Gnaden wollen dies beachten […], dass meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen.» Die Stücke Luther, Frau Schmitz, Julien, sind anregend, interessant, aktuell, politisch – inhaltlich: immer, sprachlich: meistens – lesen: unbedingt. Lukas Bärfuss, einer der meistgespielten deutschsprachigen Theaterköpfe unserer Zeit.

Lukas Bärfuss: Luther – Frau Schmitz – Julien. 324 Seiten. Göttingen: Wallstein Verlag 2021, ca. 22 Franken.

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