KW52

Tage mit schrägem Horizont

In ihrem autobiographischen Roman «Mit dir, Ima» zeichnet Daniela Kuhn das Portrait ihrer an Schizophrenie erkrankten Mutter und damit auch ihres eigenen Lebens, das von dieser Krankheit geprägt wurde.

Von Selina Widmer
27. Dezember 2021

Ein Schatten hängt über dem Leben von Daniela, die in der liebevollen Obhut ihres Vaters und dessen Eltern aufwächst. Ihre Mutter verbringt aufgrund ihrer Schizophrenie viel Zeit in der Psychiatrie und die Beziehung zwischen Mutter und Tochter gestaltet sich von Anfang an schwierig, trotz der immer wieder durchscheinenden Liebe. «Die Krankheit war immer stärker als die Liebe zu mir», stellt die Erzählerin fest. Erstaunlicherweise ist es ein konstatierender und nicht anklagender Tonfall, in der sie solche Beobachtungen äussert.

Zur Autorin

Daniela Kuhn, geb. 1969 in Zürich, studierte in Jerusalem an der Kunstakademie Bezalel. Danach arbeitete sie als Journalistin, u.a. für den Tages Anzeiger und die NZZ. Seit 2016 publiziert Kuhn als freie Journalistin mit thematischem Schwerpunkt «Alter und Psychiatrie» und ist als Textcoachin tätig. 2012 veröffentlichte sie ihr erster Erzählband «Zwischen Stall und Hotel» im Limmat Verlag. Seither verschreibt sich Kuhn programmatisch dem biographischen Erzählen. Mit «Mit dir, Ima» erscheint ihr erster autobiographischer Roman.
Foto: © Ayse Yavas

Als Daniela elf Jahre alt ist, lassen sich die Eltern scheiden. Dennoch kümmert sich der Vater weiterhin um die Mutter. Daniela Kuhn beschreibt die sich wiederholenden Zwangseinweisungen der Mutter in die Psychiatrie. Wie sie viel Zeit mit ihrem Vater verbringt; wie die Mutter wieder zurückkommt und wie es für kurze Zeit so scheint, als ob alles normal wäre oder werden könnte. Und wie dann alles wieder von vorne anfängt. Ein Suizidversuch der Mutter ist einer von vielen von der Krankheit geprägten Momente ihres Lebens. Kuhn verharmlost oder beschönigt nicht.

Sie erzählt davon, wie die Mutter plötzlich im Judentum einen Sinn findet, obwohl ihre Religion ihr in frühen Jahren nicht wichtig war. Das ganze Leben der Mutter, die von sich selbst sagt, «heimwehkrank» zu sein, ist durchzogen von der Frage nach Zugehörigkeit. 1953 wurde sie in Palästina in eine irakische jüdische Familie geboren, später wuchs sie in Israel auf. Dort lernte sie als junge Frau einen nichtjüdischen Schweizer kennen, mit dem sie nach Zürich auswanderte, wo die Tochter, Daniela, geboren wurde.

Die gesamte Geschichte rekonstruiert Kuhn aus den Erzählungen der Mutter, des Vaters und ihren eigenen Erinnerungen. Über die akuten Phasen kann die Mutter nicht sprechen, denn der Blick zurück, so Kuhn, wäre ein Blick in die Hölle. Da hilft die Krankengeschichte von der Psychiatrischen Universitätsklinik weiter, auf die Kuhn mit dem Einverständnis der Mutter Zugriff bekam. Darin liest sie unter anderem, dass die Mutter zwischen 1967 und 1997 38 Mal in die Klinik eingewiesen wurde.

Kuhn reflektiert neben dem Leben der Mutter auch ihr eigenes Schreiben darüber. Der Text hätte es aber gar nicht nötig, über sich selbst nachzudenken, dennoch tut er es hin und wieder, und diese Passagen fallen deutlich vom restlichen Text ab. Die Funktion von Stellen, in denen die Mutter beispielsweise fragt, ob die Tochter über diese oder jene Person geschrieben habe, will sich nicht erschliessen.

Etwas dünn ist der Roman auch dort, wo er eine Passage in Interviewform wiedergibt. Wirkt er ansonsten weitgehend dicht und gut gearbeitet, erscheint er hier fahrig und unreif. Der Versuch, bruchstückartig zu schreiben und die Ästhetik des Unfertigen für sich sprechen zu lassen, scheitert kläglich. Freilich lässt sich das Fragmentarische und Vernebelte leicht als ein performatives Erzählprogramm eines Textes über ein von psychischer Krankheit geprägtes Leben erkennen. Bei fragmentarischen Einschüben aus der Krankengeschichte gelingt es dann sehr wohl, die Krankheit durch dieses Erzählverfahren ansatzweise fassbar zu machen. Dies mag an den unterschiedlichen Textsorten liegen, oder aber auch am Anlegen verschiedener Massstäbe, was natürlich nicht sauber wäre. Launische Kritik ist aber vielleicht die einzige Kritik, mit der man diesem Roman begegnen kann. Um die Diskrepanz inhaltlich zu retten, könnte man die Tatsache betonen, dass die Krankengeschichte etwas genuin Literarisches ist, sofern man darin Einblick bekommt: eine Geschichte, die eigentlich nicht zugänglich ist, in der literarischen Form aber zugänglich wird.

Der Text zeigt immer wieder die Funktionsweise der Krankheit im sozialen Gefüge auf: Der Mann passt sich völlig dem Takt der Schizophrenie seiner Frau an. «Er folgte ihrem Takt, und dieser änderte mitunter so abrupt, als sei er der Verrückte.» Hier liegt die Stärke des Romans: Er zeigt die schizophrene Logik auf, die in sich zwar aufgeht, aber von aussen gesehen absurd wirkt. Der Vater betitelt denn auch den von der Mutter gelegten Brand in der Wohnung als glückliches Ereignis: «Zum Glück gab es diesen Brand, denn das verstehen die Leute, darunter können sie sich etwas vorstellen.» Um etwas Normalität und Ruhe zu haben, fährt der Vater eines Tages nach einer weiteren Einweisung der Mutter mit Daniela nach Italien. Mit Aquarellfarben malen die beiden den Blick vom Balkon des Hotels übers Meer. «Der Horizont meines Meeres verlief schräg», schreibt Kuhn.

Wie alltäglich dieser Zustand des schrägen Horizontes sein kann, zeigt sich nicht zuletzt in der unaufgeregten, nüchternen und in jeder Hinsicht gewöhnlichen Sprache, die Kuhn für den Roman nutzt. Sätze wie «Sie sagte, sie wolle sterben und holte sich einen Staubbesen, den sie im Bett umarmte» und «Kurz vor neun Uhr geht die Sonne hinter dem Bergrücken auf», klingen aus Kuhns Feder gleich selbstverständlich. Wer hier nach sprachlichen Feuerwerken sucht, sucht vergebens. Doch ist es die Nivellierung des sogenannten Verrückten und Normalen, welche eben dieser Sprache zu verdanken ist.

Neben den alltäglichen Verrücktheiten dann auch noch in die Verrücktheit der aktuellen Zeit und dem damit einhergehenden Corona-Diskurs einzutauchen, nimmt dem Roman leider wieder etwas von seiner Schlagkraft. Im Gegensatz dazu, was in einer Krankengeschichte eines Menschen mit Schizophrenie steht und wie sich das Leben mit ihr gestaltet, wissen wir doch mittlerweile alle bestens, wie umständlich es war, während der Pandemie Angehörige in Altersheimen zu besuchen, wie es war, als die Gartencenter wieder öffneten und wie Gespräche im Digitalen ablaufen.

Ist es ein weiterer, gescheiterter Versuch, das «Normalsein» durchzukonjugieren? Oder ist der Schluss ein der Zeit geschuldeter und tatsächlich unnötiger Schnellschuss? Derart lässt das Buch schliesslich auch die Leser*innen mit einem Fragezeichen und dem Eindruck eines schrägen Horizontes zurück.

Daniela Kuhn: Mit dir, Ima. 232 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2021, ca. 34 Franken.