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Sterbende Wörter, sterbende Welten

Michael Hugentoblers zweiter Roman zeichnet die Reise eines magisch anmutenden Wörterbuchs nach: Als letztes Zeugnis einer untergehenden Welt wandert es durch die Hände verschrobener Forscher, bis es durch die Nationalsozialisten für immer verlorenzugehen droht.

Von Jana Bersorger
10. Januar 2022

Thomas Bridges, Ziehsohn eines Missionars, hat sich gänzlich dem Volk der Yamana und ihrer Sprache verschrieben. Bridges – zerstreut, launisch, getrieben – ist dabei stets hin- und hergerissen zwischen einem kolonial-paternalistischen und einem bewundernd-respektvollen Blick auf die Bewohner*innen Feuerlands. Während die Missionstätigkeit erfolglos im Sande verläuft, setzt er alles daran, die akut bedrohte Welt der Yamanas wenigstens durch das Bewahren ihrer Sprache zu retten. Als Bridges 1898 stirbt, hinterlässt er ein umfangreiches Wörterbuch, das auch die traditionelle Lebens- und Gedankenwelt des Volkes greifbar macht.

Zum Autor

Michael Hugentobler, geb. 1975 in Zürich, arbeitete als Postbote und ging anschliessend auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute ist Hugentobler als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine tätig, u.a. für die «NZZ», «Die Zeit» und den «Tages-Anzeiger». 2018 debütierte er mit dem Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte». «Feuerland» ist Hugentoblers zweiter Roman. Er wurde für den Schweizer Buchpreis 2021 nominiert. Hugentobler lebt mit seiner Familie in Aarau.
Foto: © Dominic Nahr

Dieses Wörterbuch gerät 1912 in die Hände von Ferdinand Hestermann. Der deutsche Völkerkundler und Sprachforscher hütet das Werk darauf wie seinen Augapfel: Für ihn ist es «eine Kopie der Wirklichkeit in Form von Wörtern», «ein philosophischer Gral». Mit dem Erstarken des Nationalsozialismus gerät Hestermann jedoch zusehends in Bedrängnis. Seine Ausführungen zur Gleichwertigkeit der Sprachen und frühen aussereuropäischen Hochkulturen widersprechen der völkischen Ideologie. Mit der Mission, «sein» Buch in Sicherheit zu bringen, verlässt Hestermann schliesslich überstürzt Deutschland.

Durch Raum und Zeit

Im Zentrum von Feuerland stehen das Buch und die Sprache selbst. Das Faszinosum eines kleinen Objekts, das qua Zeichensystem eine ganze Welt zu übermitteln verspricht, versucht Hugentobler dabei in seinem Roman zu reproduzieren. Mit Verve beschreibt er nicht nur seine Figuren, sondern auch Möbel, Kleidungsstücke und Ähnliches. Diese detaillierten Schilderungen streben zwar nach Sinnlichkeit, oft fehlt ihnen aber das Unmittelbare. Sorgfältig konstruierte Kulissen verleihen der Erzählung so die Patina eines angestaubten Historienfilms, besonders in den Passagen rund um Ferdinand Hestermann. Die Bridges-Episoden wirken rasanter, humorvoller und lebendiger – vielleicht gerade weil Hugentobler sich das Leben der Yamana im 19. Jahrhundert nicht ganz en détail vorstellen konnte.

So nimmt die Geschichte eher langsam Fahrt auf, vermag dann aber doch mitzureissen. Hugentobler, das wird deutlich, möchte dabei in erster Linie erzählen: Die Sprache tritt als Medium der Geschichte und weniger als Selbstzweck in Erscheinung. So ist Feuerland sprachlich alles andere als experimentell, dafür aber sorgfältig ausgearbeitet; jedes Wort sitzt. Glücklicherweise verzichtet Hugentobler darauf, Hestermann oder Bridges – wie auch das Wörterbuch beides historische ‹Persönlichkeiten› – als Helden im Kampf für Gleichheit und Gerechtigkeit zu inszenieren. So ist Feuerland eine Hommage an das Buch und die Vielfalt ohne pathetisch-heroische Untertöne, dafür aber mit einer ganzen Reihe skurriler Figuren.

Michael Hugentobler: Feuerland. 224 Seiten. München: dtv 2021, ca. 29 Franken.