KW11

Was den Kindern sagen?

Tom Kummer

In seiner nun veröffentlichten Dankesrede zum Georg-Büchner-Preis verortet Lukas Bärfuss die Motivation seines Schreibens über Gewalt in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aus der Kontextur von literarischer und biografisch-historischer Verantwortung leitet er eine Notwendigkeit von Erinnerungsarbeit und Gemeinschaftlichkeit ab, die in ihrer Absolutheit bewegt. Für die Inszenierung des eigenen moralischen Anspruchs greift er jedoch auf einen indifferenten Gewaltbegriff zurück.

Von Vera Thomann

Warum einen Preis verleihen für ein Werk, das sich mehrheitlich der Gewalt widmet und diese dabei nicht nur wiedergibt, sondern auch ausschlachtet und pervertiert? Diese Problemstellung bildet die ebenso simple wie eindringliche Ausgangslage der Büchner-Preisrede von Lukas Bärfuss: Wie erklärt man den (eigenen) Kindern, weshalb gerade die literarische Reproduktion von Gewalt für preiswürdig gehalten wird?

Bärfuss schreibt die anfängliche Frage, «was denn eigentlich zum Kuckuck mein Problem sei», zügig um und weitet sie aus zur Frage nach der Gewaltgeschichte Europas im 20. Jahrhundert – zur Frage, «was denn eigentlich mit diesem Kontinent, mit Europa, das Problem war». Er skizziert die Gewaltgeschichte als eine allgegenwärtige («welchen Faden ich auch immer aufnehme, hinter der nächsten oder spätestens der übernächsten Ecke führt er zu einem Massengrab») und betont die Wichtigkeit von Erinnerungsarbeit und Gemeinschaftlichkeit, um einen erneuten «Verlust der Orientierung» zu verhindern. Es ist zwischen uns, so der Titel der Rede, funktioniert denn auch durch ihre Intensität und den Mut, einen humanitären Anspruch im Schreiben schonungslos auszuformulieren.

Zum Autor

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun. Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in über 20 Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. 2019 wurde er für sein Werk mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg

Die Eindringlichkeit dieser Rede, die sich ihrer reichen literarhistorischen Tradition durchaus bewusst ist, gründet technisch in der sorgfältig durchgeführten Parallelisierung von eigenem Schreiben und der Geschichte Europas. Mit der schriftstellerischen Entscheidung zur Verknüpfung von literarischer und biografisch-historischer Gewalt respektive Verantwortung nimmt Bärfuss jedoch eine problematische Unschärfe seines Gewaltbegriffs in Kauf: Auschwitz, der Suizid seines Bruders, der Kalte Krieg, Ruanda und Sarajevo werden allesamt zu Phänomenen des gleichen Problems erklärt, an dem dann letztlich vor allem Europa leide.

Bärfuss positioniert sein eigenes Werk nicht mehr nur «in einer Reihe» mit den vielzitierten Büchner-Preisträger*innen, sondern aufgrund seiner Argumentation innerhalb einer Tradition der literarischen Erinnerungsarbeit, die zum Ziel hat, die Erinnerung an Krieg und Faschismus «lebendig zu halten». «Poetik» und «Dramaturgie» dienen ihm in erster Linie als «Mnemotechnik» mit moralischem Anspruch und Ziel:

«[M]it wachen Sinnen und empfindsamen Herzen können wir die Gewalt erkennen, wir können sie zur Sprache bringen, und wenn wir den Mut haben und nicht um unser Leben fürchten, dann können wir uns gegen sie stellen und sie überwinden».

Diese bei aller begrifflichen Sensibilität in Kauf genommene Unschärfe des Gewaltbegriffs zeigt vor allem, welche Funktion Bärfuss der Literatur und insbesondere seinem Werk beimisst: Sie soll Mittel sein im Kampf gegen die ubiquitären Gewaltstrukturen. Bei Bärfuss tritt die Autorin, der Autor dadurch als moralische Über-Instanz hervor, die biografische und historische Gewalt zu be- und verwerten vermag. Diese mit enormem Pathos aufgeladene Autorenpersona hat Bärfuss in der Vergangenheit immer wieder Kritik eingetragen. Umso entschlossener vertritt er sie in dieser Dankrede, wenn er mit einem dichten Geflecht an Signalworten wie «wache Sinne», «Liebe», «Mut» oder «Furcht» moralische Allgemeinplätze aufruft, über die sich schwer streiten lässt.

Wenn Bärfuss zum Schluss der Rede durch die Preisverleihung mit «Zuversicht und Hoffnung» erfüllt ist, dann schlägt er damit implizit den Bogen zu «Zuversicht und Vertrauen», das er den Kindern – sie sind die potenziellen Träger*innen seiner Menschheitsutopie einer Welt ohne Gewalt –  zu Beginn der Rede schenken wollte. Dies wiederum wirft die Frage auf, ob nicht gerade die rhetorische Wendung an die Kinder einen erzieherischen Impetus offenbart, der zwar nicht als gewalttätig, aber zumindest in seiner mnemotechnischen Indifferenz gegenüber der Gewalt an sich seinerseits als gewaltvoll bezeichnet werden könnte.

Lukas Bärfuss: es ist zwischen uns. Rede zum Georg-Büchner-Preis 2019. 16 Seiten. Göttingen: Wallstein Verlag 2019, ca. 13 Franken.

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