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Gewaltsames Erbe

Terrorismus, Kindesentführung, Armut – Lukas Bärfuss’ neuer Roman «Die Krume Brot» hat es in sich. Messerscharf seziert der Büchnerpreisträger eine heuchlerische Gesellschaft, der scheinbar nur noch Bomben beikommen. Ob das gelingt?

Von Sarah Schwedes
11. April 2023

Alarmstufen

Ein Kind ist verschwunden. Verzweifelt sucht die junge Mutter ihre Tochter und schon bald drängt sich ihr ein schrecklicher Verdacht auf: Ist das Kind entführt worden? Die Fabrikarbeiterin Adelina durchlebt in Bärfuss’ historischem Roman Die Krume Brot das Horrorszenario vieler Eltern. Hinzu kommt, dass sie auch noch bis über beide Ohren verschuldet ist. Der Verlust wird zum Tropfen, der das Fass der ständigen existenziellen Sorge um das Kind zum Überlaufen bringt.

Adelina ist die Tochter italienischer Immigrant*innen. In den 1970er-Jahren ist sie als Ausländerin und alleinerziehende Mutter ein Mensch zweiter Klasse. Dazu kommt, dass sie kaum lesen und schreiben kann. In einer unsolidarischen Gesellschaft, in der Vorurteile und soziale Schranken herrschen, führt dies fast unweigerlich in die Überschuldung und – insbesondere als Frau – in die Abhängigkeit.

Für Adelina bleibt in Bärfuss’ Version der Geschichte nur der Ausweg, sich der terroristischen Brigate Rosso in Mailand anzuschliessen. Es wird nicht der letzte radikale Schritt sein, den sie unternimmt.

Zum Autor

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun. Dramatiker und Romancier, Essayist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, seine Romane sind in über 20 Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. 2019 wurde er für sein Werk mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg

Littérature engagée

Lukas Bärfuss ist für die einen Literaturpreisträger und für die anderen Aktivist. Er weist in allen ihm zur Verfügung stehenden publizistischen Kontexten auf Missstände hin, tritt in der Sternstunde Philosophie auf und scheut sich auch nicht, für den Blick zu schreiben. Seine Stücke werden im ganzen deutschsprachigen Raum rezipiert, seine Romane landen fast immer auf Bestsellerlisten. Er selbst hält Poetikvorlesungen und arbeitet unverdrossen an seinem für Schweizer Verhältnisse äusserst umfangreichen Oeuvre. Sein Werk ist mittlerweile vielschichtig, schillernd, ohne dabei den Hang seines Erschaffers zur Weltverbesserung zu verschleiern. Keine Frage: Bärfuss ist der Jean Ziegler der Schweizer Literatur, das Enfant terrible des bürgerlichen Kulturbewusstseins. Hier reiht sich Die Krume Brot fast programmatisch ein; besonders nach Bärfuss’ essayistischen Werk Vaters Kiste, das die Problematik des elterlichen Erbes thematisiert.

Schweres Erbe

Dieses elterliche Erbe wird auch in Die Krume Brot zum Ausgangspunkt der Konflikte: Seien dies die Verfehlungen des Grossvaters während des Faschismus oder die Schulden der Eltern – oder eben wie im Fall von Adelina die Unmöglichkeit des sozialen Aufstiegs. Mit verstörender Präzision fängt Bärfuss die sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Mechanismen des Ausschlusses und der Unterdrückung ein, indem er Gefühle, Stimmungen und Gedanken des Alltags mit dem Aussergewöhnlichen, Schrecklichen verwebt. Die Sprache bewegt sich dicht am Wissenshorizont der Figuren und erschafft so Porträts, die geschickt zwischen Rolle und Realismus oszillieren, ohne ins Klischierte abzurutschen. Auch wenn manche Szenen unwirklich erscheinen mögen, tragen sie noch zur Komplexität und Wirkungskraft des Texts bei. Wenn Adelina auf der verzweifelten Suche nach einem Babysitter fast traumwandlerisch für dreissig Franken Frühstück bestellt, verschwimmen für einen kurzen Moment die Grenzen, nur um dann den Blick wieder zu schärfen: Wer kassiert denn dreissig Franken für ein Frühstück?

Weiter im Text 

Wie viele historische Romane wagt auch Die Krume Brot einen sehr viel schärferen Blick in die Gegenwart, ohne dabei jedoch das Historisch-Situative tatsächlich aus den Augen zu verlieren. Er öffnet die Geschichte Adelinas und ihrer Leidensgenoss:innen, die der Analphabetin selbst verschlossen bleiben müsste, einer breiten Leserschaft. In diesem Sinn ist der Roman nicht nur ein weiterer Titel über menschliche Schicksale, der von Bärfuss zu erwarten gewesen war. Oder vielleicht eben doch: Denn Bärfuss’ Poetik ist eine, die sich klar auf der Seite der historisch und sozial Benachteiligten positioniert und insofern auch Figuren wie Adelina anerkennt. Die Krume Brot schafft als Text diese Doppelspurigkeit von programmatischer Werkfortsetzung und gleichzeitiger Durchsetzung hoher ethischer Ansprüche.

Lukas Bärfuss: Die Krume Brot. 224 Seiten. Hamburg: Rowohlt 2023, ca. 31 Franken.