KW41

«Das ist eine Regression in die Welt des Schicksals, des Götterspruchs»

Lukas Bärfuss

Mit «Hagard» hat Lukas Bärfuss einen der verstörendsten deutschsprachigen Texte dieses Jahres geliefert. Bei seinem Besuch in der Buchjahr-Redaktion sprach er über helvetische Zustände, das Erzählen im digitalen Zeitalter - und den Eros in der Öffentlichkeit.

Von Redaktion Buchjahr
9. Oktober 2017

Lieber Lukas Bärfuss, was ist eigentlich ein Smartphone?

Wenn man viele Flugreisen macht, dann kommt man auf den Gedanken, dass das etwas Gespenstisches ist. Du sitzt im Flieger, um Dich herum die Männer in Deinem Alter, alle in guten Positionen, alle mit ihrem Smartphone, die Bose-Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung aufm Kopf, schauen sie sich irgendeine Netflix-Folge an, die sie sich heruntergeladen haben: Es ist totenstill. Alle stillgelegt.

Reden wir da über Dissimulatio? Also über ein verschobenes Leben?

Nun gut: Man sieht interessante, aufregende Leute und denkt: Du bist schön, und du könntest den Flughafen durcheinanderbringen. Aber das geschieht nicht. Alle sind nur noch in ihrem Facebookaccount unterwegs. In einer Kommunikationssphäre überschwemmt mit Nullinformationen, mit massenhaft verbreiteten Statusmeldungen ohne Gehalt.

Das Phänomen, über das wir da sprechen, ist doch die Vereinzelung. Die Kanäle sind offen, man ist umgeben von phatischer Kommunikation, überall mittendrin, aber nirgends dabei. In Deinem letzten Roman schliesst sich die Tür zu diesem Leben langsam mit der Entladung des Smartphone-Akkus. Und zum Vorschein kommt dabei die Krise der Männlichkeit…

Das betrifft mich auch biographisch, da ich quasi vaterlos aufgewachsen bin. Die Geschichte vom verschwindenden Mann habe ich als Kind erlebt. Ich verbinde keine romantischen Vorstellungen damit. Das ist ja eine furchtbare Sache. Und diese weglaufenden Männer verhalten sich völlig affirmativ, ob in der Wirklichkeit oder der Schweizer Gegenwartsliteratur. Sie beweisen ganz dialektisch nur, wie unrettbar sie im System gefangen sind. Vielleicht handelt es sich aber weniger um ein Männerproblem, sondern vielmehr um das Problem des Eros in der Öffentlichkeit.

Wie ist das zu verstehen?

Ich denke da an die Debatte um Eugen Gomringers Gedicht «Avenidas».[1] Ich habe den Eindruck, dass gerade eine Generation erwachsen wird, die in der Frage, wie sich der Eros in der Öffentlichkeit zeigt, ziemlich orientierungslos ist. Das Gedicht ist nicht sexistisch, aber es spitzt an. Es ist ein erotisches Gedicht. Und ich verstehe gut, wenn man nicht angespitzt in die Schule kommen will. Man möchte als Schüler in Sicherheit sein. Und die Bilder des Eros sind ja in der Tat verstörend: Auf der einen Seite die totale Verfügbarkeit des Körpers in der Internetpornographie, auf der anderen Seite eine Stigmatisierung des Begehrens. Wer sich dabei erwischen lässt, hat Pech gehabt. Man flüchtet in Stereotypien. Die Auswahl an Bildern ist klein geworden. Die Bilder des männlichen Körpers, die man heute in der Öffentlichkeit sieht, sind stets dieselben; uniform und konform. Eine Figur wie Serge Gainsbourg ist heute im Grunde unmöglich, nicht mehr präsentabel. Das alles auf dem Kampfplatz einer weiterhin patriarchalen, sexistischen Gesellschaft: Da hat es ein scheues erotisches Gedicht auf einer Hauswand natürlich schwer. Man versteht es nicht mehr.

Der Genfer Schriftsteller Christoph Höhtker hat vor ein paar Wochen in diesem Zusammenhang einmal beklagt, dass uns das Verständnis für die erotische Notwendigkeit, auch zum Objekt zu werden, abhanden komme.

Der Prozess der Entindividualisierung durch den Eros wird nicht mehr verstanden. Davon spricht dieses Gedicht auch. Um zum Intimen zu finden, muss man einen Verlust erleben. Das, was man zu sein glaubte, ist man nicht mehr. Der Statusverlust ist essenziell. Im Begehren erhalten wir eine neue Bedeutung. Im erotischen Spiel weisen wir uns einen anderen Status zu. So ergibt sich die Spannung. Aber Spannung schmerzt. Und mit Schmerz hat diese Gesellschaft so ihre Probleme.

Kann Theater da ein Korrektiv sein?

Ich mag das Wort «Korrektiv» nicht. Aber vielleicht trifft es hier zu. Es gibt dieses schöne Zitat von Paul Valéry, wonach nur ein Denken durch den Körper überhaupt ein Denken sei. Um die Welt zu verstehen, müssen wir unseren Körper verstehen. Wenn sich dieses Verstehen vom körperlichen Erleben abkoppelt, leben wir in kognitiver Blindheit.

Und da wären wir dann wieder bei der digitalen Gesellschaft?

Ich bin kein Kulturpessimist. Kulturpessimismus war und ist immer der Anfang eines grossen Unglücks. Doch die Gesellschaft wird viele Jahre brauchen, einen Umgang mit ihren neuen Werkzeugen zu finden. Zu vieles folgt daraus. Es zeigen sich tiefe Risse in jenem Menschenbild, das wir Jahrhunderte lang vor uns hergetragen haben. Es ist das Menschenbild der Aufklärung. Der rousseausche Gedanke, dass der Mensch frei geboren ist und danach «in die Gesellschaft» kommt, dass er mit der Freiheit zugleich Verantwortung für sein Handeln erhält. Wenn heute massgebliche Aspekte unseres Zusammenlebens aber durch Algorithmen geregelt werden, dann geben wir Verantwortung und Schuldfähigkeit ab. Das ist eine Regression in eine Welt des Schicksals, des Götterspruchs. Auch Geschichtlichkeit ist so nur zu denken, weil wir keine Ursache und damit keine Wirkung mehr unterscheiden können. Der Kantsche Zusammenhang zwischen dem Willen und der Ursache fällt ebenfalls weg.

Die Folgerung bestünde aber auch darin, dass wir aus einer Welt fallen, in der Tragik möglich ist. Um es mit Kittler zu formulieren: Datenströme kennen keinen Kreuzweg.

Das mag sein. Aber vielleicht ist das ja besser so. Um noch einmal auf den Flugverkehr zurückzukommen: Durch die Automatisierung im Cockpit sinken die Flugunfälle seit Jahren kontinuierlich. Wer könnte das nicht begrüssen? Wer findet ein Argument dagegen? Wenn wir den Strassenverkehr auf selbstfahrende Fahrzeuge umgestellt haben werden: Werden wir da noch unsere Willensautonomie vermissen? Wie sähe das dann aus? Oder wollen wir noch selber fahren und dafür jedes Jahr einige Tote in Kauf nehmen? Das wären dann immer noch Verkehrsopfer, aber nicht mehr «victims», sondern «sacrifices». Ein hoher Preis, um unser Menschenbild aufrecht zu erhalten.

Schwierig ist es, in einer solchen Welt noch die alten Geschichten erzählen zu wollen. Gibt es denn so etwas wie Fiktionsmüdigkeit?

Das wäre schön, ich würde das sehr begrüssen. Leider teile ich diesen Eindruck nicht. Jeder will irgendeine verdammte Geschichte erzählen. Internationale Unternehmen fragen mich, ob ich nicht Workshops für «Storytelling» anbieten wolle.

Eine interessante Dialektik. Könnte man es nicht so verstehen: Während auf der einen Seite – das ist unsere Wahrnehmung – das Interesse an der Belletristik schwindet und man eben «Leben», Briefwechsel und Biographien lesen will, findet auf der anderen Seite eine Narrativierung von Politik und Wirtschaft statt.

Der Roman ist in der Krise, nicht erst seit gestern, mindestens seit Walter Benjamins «Der Erzähler». Aber meine Kritik ist grundsätzlicher. Platons Diktum, dass es im idealen Staat keine Dichter braucht, halte ich für bedenkenswert. Die Dichtung, das Erzählen – das sind Krisensymptome. In einer gerechten Gesellschaft braucht es keine Erzählung. Deshalb haftet dem Erzählen ein moralischer Makel an. Der bürgerliche Kunstbegriff, dass man das Schicksal der Emma Bovary verfolgt, um dann das Moment der Katharsis zu haben, seine Sitten zu verfeinern – ich habe das nie so gelesen. Ich sehe zuerst die Obszönität, die Faszination für die Gewalt, für den Untergang einer Frau. Der Tod und das Leiden eines anderen Menschen als Entlastung von der eigenen Schwäche und Sterblichkeit. Ödon von Horvath meint an einer Stelle, das Theater sei die Institution zur Abfuhr der amoralischen Triebe einer Gesellschaft.[2] Das ist das viel stärkere Motiv. Jedes Erzählen, dass seine eigene Zweifelhaftigkeit ignoriert, halte ich für unehrlich. Schadenfreude ist die schönste Freude. Vielleicht ist es auch die einzige. Es ist deshalb nachvollziehbar, wenn junge Menschen keinen Bedarf an Literatur haben und sich nicht noch eine weitere Geschichte erzählen lassen wollen. Davon haben sie genug. Und häufig sind die, die sie hören, dann auch die besseren Erzählungen: Das politische Wording ist weiter entwickelt als viele zeitgenössische Romane. Ich möchte versuchen, bestimmte Dramaturgien und ihre Wirkungsweisen offenzulegen. Das war mein Hauptziele in «Hagard» – dass man diesen Körper einmal öffnet und zeigt, wie man sich manipulieren lässt. Wie man sich durch eine Geschichte verführen lässt.

Ist es eigentlich leichter, Figuren in Prosa umzubringen?

Eindeutig. Wenn Du in eine Regieanweisung schreibst «Sie spuckt ihn an», hast Du auf der Bühne einen Menschen mit Spucke im Gesicht. Theater ist keine Fiktion. Deshalb ist es auch die Kunst der Stunde.

Auch in Zürich?

In Zürich ist die Geschichte des Theaters eine Schmerzensgeschichte. Mit dem Brand des Aktientheaters beginnt sie, dann ging es weiter mit dem Emigrantentheater, dessen Auslastungszahlen – ich habe sie einmal eingesehen – erbärmlich waren. Juden und Kommunisten hat sich das Zürcher Bürgertum nicht angesehen. Die hat man hingenommen. In den fünfziger Jahren lehnten die Stimmbürger auch folgerichtig einen Kauf des Theaters ab. Es war eine Bank, die das Schauspielhaus übernahm und vor der Schliessung bewahrte. Dann die Ära Peter Löffler – der grosse Aufbruch des Regietheaters, die Avantgarde in Zürich. Wie lange hat das gedauert? Ein halbes Jahr, dann musste er verschwinden. Dazwischen gab es Narkosephasen, aber immer wieder erwachte der Patient und merkte: Es tut immer noch weh. Bei Marthaler war es etwa so. Es ist schon so: Wenn Du es in Zürich schaffst, schaffst Du es überall.

Aber Du lebst und schreibst dennoch in Zürich?

Ja, Zürich ist ein idealer Ort, um künstlerisch tätig zu sein. Es ist eines der Herzen des modernen Kapitalismus. Viele Widersprüche liegen hier offen zutage. Die Selbsttäuschung, dass wir hier in einem abgeschiedenen Weltwinkel leben – das habe ich nie verstanden. Zürich war für mich immer eine provozierende Stadt. Gleichzeitig ist es ein Ort mit ausgefeilten Deeskalationsstrategien, die einen als Künstler korrumpieren können. In jedem jedem Fall sollte man viel reisen, um die Schweiz zu verstehen. Ich habe einen Freund in Kamerun, einen Theatermacher. Der erzählt mir, wie die Angestellten der Hauptpost in Yaoundé sukzessive von innen her die eigene Kasse geplündert haben. Mit dem Geld haben sie sich Häuser gekauft. Wo wohl? Und Paul Biya, der Kamerun seit 1982 regiert und gerade sich mal wieder die Verfassung hat umschreiben lassen: Wo verbringt der wohl einen Grossteil seiner Zeit? In einer Privatklinik am Genfer See. Wer mit Kamerunern spricht, erhält ein anderes Bild der Schweiz.

Schliessen wir das einmal mit dem Vorhergesagten zusammen. Die Schweiz wäre so etwas wie das Epizentrum jener fingierten Welt: Die Oberfläche ist glatt, funktional, sauber, untragisch. Alle Störmomente entweder ausgelagert oder im Untergrund. Liegt dann der Reiz der Fiktion, des Erzählens nicht gerade darin, dass diese Verdrängungsprozesse wieder sichtbar gemacht werden? Die Amoralität gehoben wird?

Vor allem geht es um die alte marxistische Frage: Für wen? Für wen werden diese Algorithmen geschaffen? Wer darf die Infrastrukturen benutzen? Um beim Beispiel Kamerun zu bleiben: Man muss nur einmal versuchen, Geld aus der Schweiz nach Kamerun zu überweisen. Schwierig bis unmöglich. Die Transfersysteme sind nicht darauf ausgelegt. Man wird aufs Bargeld zurückgeworfen.

Das Verschwinden der ökonomischen Prozesse beruht also auch auf dem Ausschluss als «nicht profitabel» erachteter Geschäftspartner, einem grossen Teil unserer Welt.

Und derweil feiern wir uns für die berührungslose Kultur. Wenn ich mir wie eben am Heimplatz in Zürich ein Biberli kaufe und meine Plastikkarte an ein verdammtes Gerät halte, kann die Verkäuferin derweil telefonieren. Es braucht keinen Kontakt mehr. Als Konsument bin ich autonom, und bewege mich in einer Gesellschaft ohne Widerstände. Tatsächlich aber geht der soziale Kampf weiterhin um die Physik, um die Räume, um Material. Wir müssen um die Räume kämpfen, weil nur in den Räumen geschehen die Revolutionen. «The revolution will not be televised», wie es bei Gil Scott-Heron heisst, und sie wird auch nicht gestreamt werden, weder auf Facebook, noch auf Netflix. Es wird Räume brauchen, Leiber brauchen, Physis brauchen.

Kommen wir noch einmal zu Deinen Texten zurück, zu Deinen Figuren. Wir meinen da einen Bruch auszumachen: In den Vorgängerromanen, am eindeutigsten in «Koala« hatten wir es bereits mit Lonern zu tun, schmallippige Erscheinungen, die nur das Nötigste gesagt haben. In «Hagard» haben wir es jedoch nun mit einer Figur zu tun, die nicht mehr gedeutet werden will, sondern die nur etwas erleidet und uns dadurch nochmal eine Pathos-Erfahrung ermöglicht.

Der letzte Satz des Buches – «Dies ist das Ende, und hier will ich beginnen» – ist programmatisch. Ich könnte hier noch einmal anfangen, ich habe eine Ahnung, was kommen könnte, vor allem aber weiss ich, dass gewisse Dinge nicht mehr möglich sind.

Was ist denn nicht mehr möglich?

Wolfram von Eschenbach macht sich in seinem Parzival über jene lustig, die lesen und schreiben können[3]. Er hat ja recht: Gegenüber jenen, die sich alles im Kopf merken können, erscheinen solche, die Text ablesen müssen, als Idioten. Die Kritik am Roman kann mit der Kritik des Buches beginnen. Wir beginnen auf der ersten Seite links oben und gehen nach rechts unten, wenden die Seite, damit wird die vergehende Zeit simuliert. Das ist eine reine Konvention – im Bewusstsein selbst kennen wir keine Zeitlichkeit, sondern nur die Gegenwart. Jene, die daran glauben, dass das, was auf Seite 7 steht, auch früher geschehen ist als das, was auf Seite 30 kommt, die stehen zurecht im Verdacht des Aberglaubens.

Zum Zweiten, und das hängt mit diesem Aberglauben zusammen: Was mir in jüngster Zeit auf die Nerven geht, ist die Hegemonie der erlebten Rede, des style indirect libre. Ich gehe in die Buchhandlung: 80% der Romane, die ich aufschlage, sind im style indirect libre geschrieben. Das war mal einst ein avantgardistisches Mittel, Broch, Virginia Woolf – zu einer Zeit, in der man die Vorstellung von einem Subjekt hatte, das isoliert sei von anderen Subjekten. Der Autor schmiegt sich nun an dieses stumme Subjekt und bringt es zur Sprache. Beides trifft für unsere Zeit nicht mehr zu. Das Subjekt hat sich aufgelöst, und was von ihm übrigblieb, ist gewiss nicht stumm. Wie kann es also sein, dass ein literarisches Mittel, das mit einem bestimmten, historisch beschränkten Menschenbild zusammenhängt, eine solche Hegemonie hat? Meine Generation müsste die literarischen Mittel entwickeln, um auf die Höhe des Bewusstseins zu kommen. Leserinnen und Leser haben eine komplexere Empfindung für die Wirklichkeit als ein Grossteil der Literatur, die wir heutzutage lesen können.

Kommen wir einmal vom Text- zum Autorbewusstsein. Der Autor Lukas Bärfuss erfährt ja medial grosse Resonanz, er trägt sich über seine Bücher selbst. Was kommt von dieser öffentlichen Resonanz eigentlich beim Autor an?

Zur Ökonomie: Ich wollte immer von meinem Schreiben leben können. Am Anfang habe ich mir den Zeitschriftenkatalog besorgt und überall meine Geschichten hingeschickt. Es gibt erstaunlich viele Publikationen, die unter Umständen bereit sind, einen literarischen Text zu drucken für fünfzig Stutz. Die christlichen Feiertage sind in der Hinsicht immer einträglich, da ist Besinnliches gefragt. Kurz: Das Gewerbliche hat mich immer interessiert. Es bringt einem als Künstler mitten in die Gesellschaft, auch und gerade mitten in ihre Widersprüche, wenn man die Kunst auch als ökonomisches Subjekt erlebt.

Vor zwei Jahren hast Du ja mit dem Essay «Die Schweiz ist des Wahnsinns» in der FAZ noch etwas anderes gewagt: nämlich selbst eine Rolle genommen, die Rolle des öffentlichen Intellektuellen. Ging es dabei auch um eine Inszenierung des Autors Lukas Bärfuss als Figur?

Nein, auch wenn es natürlich stimmt, dass mit jedem Text der Autor in eine Rolle schlüpft. Aber Kalkül war das nicht. Vielmehr ist der angesprochene Text zufälligerweise genau zur Frankfurter Buchmesse und eine Woche vor den eidgenössischen Wahlen aus einem Impuls heraus entstanden. Er hat viel verändert in meinem Leben. Manches, was vorher bestenfalls atmosphärisch zu greifen war, wurde mir auf einmal glasklar. Dafür bin ich sehr dankbar.

Bleiben wir bei einem Bild, das dieser Essay aufnimmt und das sich sehr schön mit einer Zeichnung in Verbindung bringen lässt, die man auf den letzten Seiten von Matto Kämpfs «Kanton Afrika» findet: ein Land, das seine Konturen verliert. Das ist ja durchaus bemerkenswert. Es geht nicht darum, dass die Schweiz sich bestimmten Werten zu- oder von bestimmten Werten abwendet, sondern dass alles am Ende abwaschbar ist.

Das Bild von der «stabilen Schweiz» ist wirklich nur ein Bild. Es gibt kaum ein Land, das sich so schnell verändert wie die Schweiz – auch zu ihrem Vorteil. Das ist der Situation eines Kleinstaats geschuldet. Peter von Matt hat in den Tintenblauen Eidgenossen auf eine Rede Napoleons von 1802 in St.Cloud hingewiesen, in der es um die Mediationsakte und das schweizerische Selbstverständnis geht. «Vous êtes un pays pauvre. La nature vous a tout refusé. (…) Vous ne devez pas prétendre à jouer un rôle entre les puissance de l’europe (…), qui sont en équilibre; vous êtes tranquille, même dans les moments d’oscillation, parce que vous tenez le milieu des bras de la balance.»[4] Wir haben ruhig zu bleiben und die Bewegungen der Achsen mitzumachen. Wir alle hören noch den Bundesrat Merz im Frühling 2008: «An diesem Bankgeheimnis werdet ihr euch noch die Zähne ausbeissen!» Anderthalb Jahre später und nach einem turbulenten Wochenende war es pulverisiert. Zu Recht und zum Wohle der Schweiz. Ein Kleinstaat braucht ein paar Behauptungen, auch wenn diese am Ende gar nicht zu halten sind.

Aber manchmal wird der Selbstbetrug gefährlich, etwa im Fall des «Inländervorrang light». Dass man damit durchkommt – ziemlich unglaublich. Wir führen Euch zweimal hinters Licht: Zum ersten Mal bei der Volksinitiative, das zweite Mal beim Bundesgesetz. Wenn ich rechtsnational eingestellt wäre und ja gestimmt hätte bei der Masseneinwanderungsinitiative – ich wäre ziemlich wütend. Der wirtschaftliche Opportunismus wird sich im Zweifelsfall durchsetzen. Und bevor wir die Bilateralen gefährden, schrauben wir lieber an der Verfassung herum. Gleiches mit der Auslieferung der Akten an die amerikanischen Steuerbehörden in einem hängigen Verfahren vor dem Bundesstrafgericht. Natürlich hätte man eigentlich abwarten müssen, bis die mutmasslichen Steuerhinterzieher ihr Urteil erhalten haben, aber was hat man gesagt? Tut uns leid, Freunde, aber wir müssen Euch jetzt leider ausliefern. Man gehorcht einfach dem äusseren Druck. Notwendigerweise, natürlich, und um das zu kaschieren, beschwört man die Stabilität.

Du sprachst in Deinem Essay vom «Plasma».

Das ist ein Bild aus Ralph Ellisons «Invisible Man». Aber eben: Warum nicht? Der modernen Welt muss man sich anpassen. Auch die Schweiz.

Ist die Schweiz damit noch ein Sonderfall oder vielmehr der Raum, in dem sich die globalen Prinzipien nur am deutlichsten zeigen?

Was ich sehe, ist, dass manche multiethnischen Nationalstaaten in schwere Krisen gekommen sind in den vergangenen Jahren. Belgien, Spanien, das Vereinigte Königreich. Es scheint, dass der Nationalstaat als Kohäsionsinstrument an seine Grenzen kommt und nur der Kulturraum noch Identität stiftet. In der Schweiz werden diese Erschütterungen sehr wohl gespürt – aber sie haben erstaunlicherweise keine Folgen. Warum gibt es in der Schweiz keine Diskussion über die Institutionen und über die demokratischen Verfahren? Vermutlich weil man weiss: Wer darüber spricht, der kommt der Wirklichkeit in diesem Lande auf die Schliche. Und das ist fatal, das kann man sich nicht leisten.

Da wären wir dann wieder auf der Outputseite. Die Wahrnehmung Deiner Person wird ja durch den Eindruck geprägt, dass da einer das grosse Ganze im Blick hat und nicht an Detailproblemen herumdoktert. In «Stil und Moral» entwickelst Du ja die Faustformel, dass es nur darauf ankommt, hinzuschauen und sich nicht vom Komplexitätsgerede einlullen zu lassen. Aber wo schaut man denn hin, wenn man das Ganze sehen will? Welchen Quellen kann man vertrauen?

Ich vertraue keiner Quelle. In der Sprache gibt es keine Wahrheit. Sprache ist immer Taktik, Strategie, Position; da ist immer eine Haltung dahinter. Darum frage ich beim Lesen eines Textes zuerst nach dem Interesse. Zudem war ich früh aus reinem Überlebenswillen darauf angewiesen, dass ich die Gesellschaft verstehe, weil ich vom Rand der Gesellschaft kam. Und ich habe früh gelernt, dass ich nur meinen Denkapparat habe, um die sozialen Mechanismen zu entschlüsseln. Für mich ist dieses Verstehen bis heute eine vitalisierende, existenzielle Tätigkeit. Wenn ich es mir recht überlege: Ich vertraue eigentlich nur einer Quelle blind. Den Dichtern.

Um da nachzuhaken und zu unseren Überlegungen zur Krise der Fiktion zurückzukehren: Wenn man davon ausgeht, dass in der Sprache keine Wahrheit ist: Ist das, was wir gerade in der internationalen Politik erleben, nicht gerade die konsequente Umsetzung dessen? Dass alles behauptbar ist, weil es gar keine Wahrheiten gibt, die sich in der Sprache festmachen lassen?

Es ist gerade umgekehrt. Als Menschen besitzen wir eine Empfindung für die Wahrhaftigkeit, für das, was zwischen dem liegt, was ist, und jenem, was ich zu sagen in der Lage bin. Ich habe das im Text «Freiheit und Wahrhaftigkeit»[5] ausgeführt: Wenn man aus Scham über gewisse Dinge nicht reden kann, ist das unerträglich. Und unerträglich ist es auch im gesellschaftlichen Massstab. Es ist weniger die Unfreiheit, die unerträglich ist, vielmehr das Fehlen der Wahrhaftigkeit. Und die Empfindung für diese Absenz lernt man nicht, sie ist dem Menschen gegeben. Das gilt ebenso für unseren Umgang mit Texten. Jedes Mal, wenn ich ein Buch lese, dann übergebe ich mich dem Erzähler und vertraue ihm, lasse mich führen und verführen. Ich vertraue ihm in seiner Rolle. Und dieser Vertrauensvorschuss, den wir einander geben, in der Literatur, auf dem Theater, im Alltag und auch in der Politik – den sollten wir nicht hintertreiben. Dazu gehört Wahrhaftigkeit. Und eine Kritik an der Sprache.

Das Gespräch führten Seraphin Schlager, Christoph Steier und Philipp Theisohn.


[1] «avenidas/ avenidas y flores/ flores/ flores y mujeres/ avenidas/ avenidas y mujeres/ avenidas y flores y mujeres y/ un admirador».

[2] «Es wird ein Kommunist auf der Bühne ermordet, in feiger Weise von einer Überzahl von Bestien. Die kommunistischen Zuschauer sind voll Haß und Erbitterung gegen die Weißen – sie leben aber eigentlich das mit und morden mit und die Erbitterung und der Haß steigert sich, weil er sich gegen die eigenen asozialen Wünsche richtet. Beweis: es ist doch eigenartig, daß Leute ins Theater gehen, um zu sehen, wie ein (anständiger) Mensch umgebracht wird, der ihnen gesinnungsgemäß nahe steht – und dafür Eintritt bezahlen und hernach in einer gehobenen weihevollen Stimmung das Theater verlassen. Was geht denn da vor, wenn nicht ein durchs Miterleben mitgemachter Mord? Die Leute gehen aus dem Theater mit weniger asozialen Regungen heraus, wie hinein. (Unter asozial verstehe ich Triebe, die auf einer kriminellen Basis beruhen – und nicht etwa Bewegungen, die gegen eine Gesellschaft gerichtet sind – ich betone das extra, so ängstlich bin ich schon geworden, durch die vielen Mißverständnisse). Dies ist eine vornehme pädagogische Aufgabe des Theaters.» Ödön von Horvath: Gebrauchsanweisung. In: ders., Gesammelte Werke, hg. von Traugott Krischke und Dieter Hildebrandt, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1978, 659-665.

[3] «hetens wîp niht für ein smeichen,/ich solt iu fürbaz reichen/ an diesem maere unkundiu wort,/ ich spraeche iu d’âventiure vort./swer des von mir geruoche,/dern zels ze keinem buoche. /ich kan decheinen buochstap./dâ nement genuoge ir urhap: disiu âventiure/vert âne der buoche stiure.» Parzival, 115, 21-29.

[4] Peter von Matt: Die tintenblauen Eidgenossen, München 2001.

[5] Lukas Bärfuss: «Freiheit und Wahrhaftigkeit». In: ders., Stil und Moral, Göttingen 2015.

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