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Vom Bündner Bergtal ans weite Meer

Mit «Verd s-chür» veröffentlichte die Unterengadiner Schriftstellerin Rut Plouda 2020 eine Sammlung rätoromanischer Kurzprosa, deren Texte das Spannungsverhältnis zwischen Intimität und Weite, zwischen einfacher Alltagssprache und Poesie ausloten. Ein Jahr später ist nun die deutsche Übersetzung von Claire Hauser Pult mit dem Titel «Moosgrün» erschienen.

Von Silvio Badolat
6. Dezember 2021

Jangtsekiang, Hwangho, Mississippi, En, Clemgia und Chamuera – dieser klingende Wortfluss öffnet schon im ersten Text von Rut Ploudas Moosgrün einen Horizont, der weit über die Berge des Unterengadins, über die vier Wände des nach «Kreide und nassem Schwamm» riechenden Schulzimmers hinaus reicht; hinaus zum einsamen Matrosen auf dem unendlich weiten Meer, weit weg in eine Traumwelt von Wüstenkarawanen und weiten Eisebenen bis hin zum Mond, der sich schliesslich wieder im Scuoler Dorfbrunnen spiegelt.

Im Jahr 2020 veröffentlichte Rut Plouda Verd s-chür (Dunkelgrün), eine Sammlung von rätoromanischer Kurzprosa, die sowohl ganz neue Texte wie auch solche aus früheren Schaffensphasen umfasst. Ein Jahr später ist das Werk nun auch in der deutschen Übersetzung von Claire Hauser Pult erhältlich. Dass diese so gut gelungen ist, muss man der Übersetzerin hoch anrechnen, denn die Sprache von Rut Plouda ist raffiniert und spielt, irgendwo zwischen kondensierter Prosa und Poesie, mit dem Klang von Wörtern, Wortfolgen und Satzkonstruktionen, arbeitet mit einer häufig bewusst offenen Semantik und vermittelt dennoch eine Einfachheit, eine Art schlichte Profundität. Dergestalt erzeugen ihre Texte eine ästhetische Erfahrung, die sich nur schwer in die deutsche Sprache übertragen lässt. Wie schon das Original wagt auch die Übersetzung den Spagat über die Sprachgrenzen hinweg, zuweilen kapituliert sie jedoch vor der Aufgabe, die Originalität von Ploudas Sprache im Deutschen wiederzugeben, so dass vier Texte aus Verd s-chür ganz weggelassen wurden.

Zur Autorin

Rut Plouda, geb. 1948 in Tarasp (Unterengadin), absolvierte eine Ausbildung am Lehrerseminar in Chur. Ab 1972 arbeitete Plouda als Lehrerin in Ftan, wo sie heute lebt. Seit 1984 veröffentlicht sie Lyrik und Prosa auf Vallader, einem Unterengadiner Idiom. Ausserdem ist sie für das romanische Radio tätig. Für ihr Werk wurde Plouda mehrfach ausgezeichnet, so etwa mit dem Schillerpreis 2001.
Foto: © Ayșe Yavaș

Die Texte, meist nicht länger als ein bis zwei Seiten, bieten eine grosse Vielfalt. Sie stammen mitten aus dem Alltag, greifen aktuelle Themen auf, wechseln ständig die Perspektiven, mal konsterniert, melancholisch, mal wütend, mal sehnsuchtsvoll, oder sogar humoristisch. Was passiert, wenn der böse Wolf einfach nicht kommt, oder Rotkäppchen gar vom Jäger gefressen wird? Darf man ein Huhn anderen Hühner gegenüber bevorzugt behandeln? Wer kauft im Dorfladen ein und was bedeuten Grenzen – für das kleine Mädchen, für jene, «die eine solche Grenze überqueren müssen, wenn es um Leben und Tod geht»? Zwar sind die Texte weitgehend in sich geschlossen und können für sich gelesen werden. Dennoch ziehen sich dabei Motive wie etwa der Tod, das Abschiednehmen, das Meer, Flüsse (metaphorisch und konkret) und, wie der Titel impliziert, Farben und Synästhesien wie ein roter Faden durch Moosgrün.

Zwei Themen dienen dabei als Ausgangspunkt und poetisches Prinzip für viele der versammelten Texte: Wörter und Erinnerungen. Oft steht ein Buchstabe am Beginn eines Textes, woraus eine Wortreihe entsteht «Zum Beispiel Wörter mit R, R wie Ranunkel, Rache, Ruf, Rimini, Roboter – oder vielleicht Regen». Jedes Wort wird gefüllt mit Assoziationen, sei es nun die Polenta auf dem Tisch der Grosseltern, Europa mit all seinen Städten, seiner Geschichte, seiner Flüchtlingsproblematik, die Bank vor dem Haus, in der Schule, in der Kirche oder am Waldrand, oder eben der Regen, der die Dachtraufen zum Überlaufen bringt, Tropfen, die von Regenschirmen herabgleiten «wie Kinder auf einer Rutschbahn». Der Buchstabe fungiert so als Anstoss zur Reflexion über Wörter, über Sprache und über das Schreiben, während das Wort personifiziert wird, sich schämen muss, gefüllt wird mit Intertextualitäten vom Tiroler Dichter bis zu «Rose is a rose is a rose is a rose» von Gertrude Stein. Gefüllt mit Erinnerungen, Erinnerungen an das Kinderspiel, an eine Fehlgeburt, an den Regenschirm, den das kleine Mädchen von ihrer Jaja (Tante) in Tirano erhielt. Wollte man den poetischen Kern von Moosgrün herausschälen, so wäre es wohl die Erkenntnis, dass es Erinnerungen sind, die ein Wort zu einem Wort machen: «Ich und meine Beziehung zu den Dingen macht, dass die Rose eine Rose ist, die Birke eine Birke, dass der Inn der Inn ist, dass Guarda Guarda ist.»

Rut Plouda: Moosgrün. 112 Seiten. Luzern: edition bücherlese 2021, ca. 26 Franken.