Paranoia Wunderwelt

Eng ist es. Eng sind die Bücher, Magazine, Kartenständer und Stühle aufgestellt. Nur die Menschen stehen nicht eng aneinander. Drei junge Freunde sitzen im Hintergrund auf bequemen Sesseln und sehen aus, als wären sie in ihrem Wohnzimmer. Einfach toll so eine Buchhandlung. «Paranoia», so der Name, ist hier nicht Programm. Zum Glück. Es ist vielmehr sehr heimelig und liebevoll. ‹Cozy› würde man in einem Blog schreiben. Was ich ja versuche.

Ein Hauch von Wes Anderson spürt man.

Hier liest heute Jörg Rehmann aus seinem Debütroman «Herr Wunderwelt» vor. Seraina Kobler, die Moderatorin der Lesung, wirkt ein bisschen nervös (ich übrigens auch), aber das wird sich legen. Sie eröffnet den Abend mit der lockeren Einstiegsfrage, was den das Lieblingsessen aus den Jugendtagen von Jörg Rehmann sei. «Fischlefunker» (so spricht man es aus), eine Suppe aus Lebkuchen, die es nur an Weihnachten von der Oma gab, so die Antwort vom Autor. Schnell wird klar, allzu formal wird das hier heute nicht. Gut so.

Herr Rehmann beginnt aber bei der Form des Romans. Dieser hat zwei Erzählstränge, die ineinander verschlungen erzählt werden. Da sind die Kinder- und Jugendjahre von Dirk Sehmann, dem Hauptprotagonisten und Ich-Erzähler, die von den Eigenheiten der Adoleszenz in der DDR berichten. Der zweite Strang erzählt die Jahre ab der Flucht von Dirk nach Westberlin mit 23 und sein wWandeln zwischen der Alltagswelt und dem Nachtleben in der Queer-Szene. Es soll kein Schelmenroman sein, so Rehmann, aber der Protagonist Dirk hat etwas schelmenhaftes an sich. Er angelt sich ein Job als Pfleger in einer Altersresidenz, ohne die notwendige Ausbildung abgeschlossen zu haben. Immer wieder flüchtet Dirk in erfundene Biografien und in seine Fantasie. «Herr Wunderwelt» ist deshalb ein passender Titel für den Roman.

Jörg Rehmann spricht mit ruhiger aber kräftiger Stimme. Er lacht viel. Im Publikum ist es still, nur mein Magen knurrt. Gut trinke ich Bier. Hat ja Kohlenhydrate, wie man weiss.

Man spürt, wie viel Zeit Jörg Rehmann mit der Figur Dirk verbracht hat. Zwischen den Leseblöcken erfahren wir einige Details, die so im Buch nicht zu lesen sind. Überhaupt gibt sich Herr Rehmann in den Lesepausen sehr offen und plaudert aus dem Nähkästchen. Zum Beispiel, dass im Buch kein ostalgischer Blick transportiert werden sollte. Es sei ein grosser zeitlicher Abstand zu den Geschehnissen notwendig gewesen, um die Geschichte mit Leichtigkeit und Humor zu schreiben, dennoch soll sie nichts beschönigen. Bei der abschliessenden Fragerunde zeigt sich das Publikum zurückhaltend. Mich würde dann noch interessieren, wie der Autor zu anderen Ostromanen wie zum Beispiel «Herr Lehmann» steht. Diesen hat er bewusst nicht vor Abschluss von «Herr Wunderwelt» gelesen, so Rehmann, aus Angst sich zu stark an ihm zu orientieren.

Seraina Kobler schaut auf die Uhr. 20 Minuten überzogen. Also Zeit abzuschliessen. Mein Arsch tut auch schon ein wenig weh.

Figuren, die sich selbst zurechtkneten

Mit warmen Worten kündigte die Leiterin der Buchhandlung Nievergelt in Oerlikon die ortsansässige Schriftstellerin Judith Keller an. Gemeinsam mit Sebastian Ryser erweckte die junge Autorin ihren Debütroman Oder? in einer szenischen Lesung zum Leben. Der Anlass nahm das Publikum mit auf eine Irrfahrt durch die Geschichte der eigenen Herkunft und folgte der Fährte, die sich die Romanfiguren selbst erschaffen. Die beiden Protagonistinnen kommen nämlich schon zu Beginn zum Schluss, dass sie «keiner Handlung dienen», sondern «nur noch Spuren hinterlassen» wollen.

Im Rahmen der Aufführung trug Keller eine gekürzte Version von Oder? vor. Sie verlangte ihren Zuhörern einiges an Konzentration ab. Der Text ist mosaikartig zusammengesetzt und versucht gerade eben keinen schlüssigen Plot zu skizzieren, sondern in seiner Schreiblust so manche Stimme auszuprobieren, hinter sich zu lassen, wieder aufzunehmen. Beispielsweise flocht Keller verschiedene Zitate – von Lexikoneinträgen über Hölderlin bis zu Anspielungen auf die griechische Mythologie – in ihren Text. Es geht darum, aus den unzähligen anderen Stimmen die eigene herauszuhören. Die Protagonistin Alice Kneter will ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen, sich selbst formen.

Die Klanglichkeit des Romans kam im Vortrag besonders gut zur Geltung. So schienen aus der Erzählung immer wieder einzelne Sätze auf, welche die Aufmerksamkeit auf sich zogen, da sie klangliche oder inhaltliche Verschiebungen vornahmen. Zum Beispiel ging es unter dem Untertitel «Lohn» um Platon, eine heruntergekommene Frau, die Geld für’s Verstehen verlangte. Wieder andere Verschiebungen lenkten den Fokus auf die Literarizität des Textes. Besonders gelungen war in diesem Zusammenhang ein Brief, den Keller und Ryser synchron vorlasen und welcher die Doppelung von Schreibenden und Lesenden aufzuführen vermochte.

Oder? ist ein Roman, innerhalb dem Zeit und Raum in Buchseiten gemessen werden. Kurzum: Er führt die Wirkungsmacht der eigenen Geschichte vor Augen – und die «brätscht»!

Unter uns, aber unsichtbar

Die Idee zum Buch «Die Unsichtbaren» von Tanja Polli und Ursula Markus entstand während der Corona-Krise. Die Pandemie brachte die Situation der sogenannten Sans-Papiers in der Schweiz ans Licht. Menschen standen im Zürcher Kreis 4 Schlange für Grundnahrungsmittel und die Autorinnen begannen sich dafür zu interessieren, wer diese Menschen eigentlich sind. Auch die Medien berichteten zu Beginn des Lockdowns viel über die Sans-Papiers, doch die Aufmerksamkeit flachte schnell wieder ab, wie der ehemalige Sans-Papier Weimar Arnez in der Poduiumsdiskussion berichtet.

Die Buchvernissage und die anschliessende Diskussion geben sowohl Grund zur Hoffnung als auch zur grossen Verständnislosigkeit. Tanja Polli präsentiert zu Beginn Auszüge aus den einzelnen Portraits der Sans-Papiers, und schnell wird klar, eines haben sie alle gemeinsam: Sie alle wollen ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen und Arbeiten dafür extrem hart. Sie putzen, kochen, arbeiten als Nanny, Coiffeuse oder Sexarbeiterin und leben mit der Angst aufzufliegen. Sie sind gezwungen unter prekären Arbeitsverhältnissen und skandalös tiefen Löhnen illegal zu arbeiten. Der einzige Ausweg aus der Illegalität scheint meist nur durch Heirat zu gelingen – so auch in einigen Portraits beschrieben.

Mit ihrem Buch möchten Tanja Polli (Text) und Ursula Markus (Fotos) den Unsichtbaren ein Gesicht und eine Stimme geben. Und damit nicht genug, auch bei der Vernissage sind einige der Portraitierten anwesend, zeigen sich nach der Lesung ihrer Geschichte kurz auf der Bühne. Einige richten sogar noch ein paar Worte ans Publikum. Es ist beeindruckend, die Geschichten dieser unterschiedlichen Menschen zu hören und sie anschliessend auf der Bühne zu sehen. In der Podiumsdiskussion wurde die Schweizer Justiz von den Sans-Papiers kritisiert und Fragen vom Publikum direkt beantwortet, was ein sehr authentisches Gespräch ermöglichte. Auch Bea Schwager der Sans-Papier Anlaufstelle (SPAZ) kritisiert immer wieder, dass diese Personen keine Möglichkeit haben, sich zu wehren. Die Angst oder Chance verhaftet oder ausgeschafft zu werden überwiegt fast immer.

Zu guter Letzt stellt sich die Frage, was wir als Gesellschaft beitragen können, um diesen Menschen zu helfen? Weimar Arnez hat darauf eine klare Antwort: Geht abstimmen! Wenn man Politiker*innen wählt, die sich für Migrant*innen einsetzten, leiste man bereits einen Beitrag, so Arnez. Er schliesst sein Votum mit einem Zitat von Bea Schwager: «Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn Menschen ihre Grundrechte nicht wahrnehmen können.»

«Dürfen Schwarze Blumen Malen?»

Vom 15. bis ins 21. Jahrhundert erzählt Sharon Dodua Otoos Roman «Adas Raum» die Geschichte von Ada. Ein Name, der viele Figuren in sich vereint. Ebenso wie die zeitliche Spanne ist auch die geografische breit: Die Autorin führt uns von der Küste Westafrikas nach Nordeuropa. Zusammenhänge zwischen den einzelnen Protagonistinnen gibt es viele: Ein Armband, das durch die Geschichte reist. Alle Figuren erleben Traumata. Und alle Figuren erleben Diskriminierung(en). Dabei versucht Otoo herrschende Machtverhältnisse in ihrer Komplexität darzustellen. Beispielsweise ist eine Hauptfigur einerseits verschiedenen Diskriminierungsformen wie Sexismus und Rassismus ausgesetzt. Andererseits hat diese durch ihre soziale Schicht Privilegien, die sie ausnutzt. 

Es ist Freitag Abend im Karl der Grosse. Der Saal ist gut besucht. Immer wieder Gelächter. Traudl Bünger moderiert das Gespräch mit Sharon Dodua Otoo. Die Autorin begegnet dem Publikum mit viel Charme, Witz und einer entwaffnenden Direktheit. So erzählt Otoo uns beispielsweise, wann genau sie begann, als berühmte Autorin zu arbeiten. Berühmt ist sie in der Tat: Nicht zuletzt gewann Otoo 2016 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 

«Adas Raum» gerät aus dem Gesprächsfokus, als sich Bünger und Otoo dem Thema Rassismus im Kulturbetrieb widmen. So kommt zur Sprache, wie sich die Autorin mit befreundeten Schriftsteller:innen of Color wie Shida Bazyar «Drei Kameradinnen» und Olivia Wenzel «1000 Serpentinen Angst» über Interviewfragen unterhält. Eine Frage wird allen dreien besonders oft gestellt: Inwiefern denn ihre Literatur autobiographisch sei? Kaum ein Gespräch ohne diese Frage. Je länger ich darüber nachdenke, desto unpassender finde ich diese Frage. Zu unterschiedlich sind die Romane von Wenzel, Bazyar und Otoo in Form und Inhalt. Ausserdem erzählt «Adas Raum» auch von historischen Persönlichkeiten wie Ada Lovelace. Weiter wird auf der Bühne auch über den Repräsentanzdruck von nicht-weissen Autor:innen gesprochen. Eine Schwarze Autorin muss immerzu repräsentieren. Das äussert sich nicht nur in Interviewfragen, sondern auch in der Literatur selbst: Da es nicht viele Schwarze Figuren in der deutschsprachigen Literaturwelt gibt, kommt deren Skizzierung ein grösseres Gewicht zu, so Otoo. 

Figurenvielfalt auf dem Buchumschlag von «Adas Raum»
© Sita Ngoumou

Bünger formuliert darauf vorsichtig die Frage, ob denn ein weisser Mensch über Rassismus schreiben dürfe? Otoo antwortet postwendend: «Unbedingt!» Darauf kommt Otoo auf die Diskussionen um die diesjährige Frankfurter Buchmesse zu sprechen. Jasmina Kuhnke sagte ihren Auftritt ab, weil der Jungeuropa-Verlag, dessen Verleger Philip Stein ein rechtsextremer Aktivist ist, einen Stand auf der Messe hatte. Otoo plädiert für Solidarität; sie wünscht sich, dass insbesondere weisse Menschen sich mit dem Thema auseinandersetzen und für Kuhnke einstehen sollten.

Zwischendurch liest uns Otoo aus «Adas Raum» vor, treibt unsere Gedanken weg vom Kulturbetrieb und hinein in Adas Geschichte. Auffallend ist dabei nicht nur die lebendige Lektüre Otoos, sondern auch die Kreativität in ihrer Sprache. Diese schöpft sie auch aus Grenzen, die ihr durch ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe gesetzt werden. Neben dem Druck zur Repräsentanz als Schwarze, stört sich Otoo auch ab dem Begriff «Frauenbuch». «Was soll das überhaupt sein?» fragt sie sich und das Publikum. Nur weil sie weibliche Hauptfiguren ausgewählt habe, sei dieser Begriff noch lange nicht angemessen. Otoo bricht mit den Kategorien Frau und Mann, indem sie herrenlos und frauenlos als Synonyme verwendet. Ein weiteres Beispiel gibt der Titel von Otoos Klagenfurter Rede zur Literatur von 2020: «Dürfen Schwarze Blumen Malen?» Da die Autorin alle Wörter grossschreibt, erhält die Frage einen doppelten Boden, wie sie uns Zuhörer:innen erklärt. Dürfen schwarze Blumen malen? Dürfen Schwarze Blumen malen? Ebenso prägnant wie niederschwellig vermittelt die Autorin uns damit die Macht der Sprache. Oder wie es ein Zitat aus Otoos Klagenfurter Rede auf den Punkt bringt: 

»›Lehrer*innen‹ hat nicht die gleiche Bedeutung wie ›Lehrerinnen und Lehrer‹, ›Fremdenfeindlichkeit‹ schreibe ich nicht, wenn ich ›Rassismus‹ meine, und ›schwarz‹ ist nicht gleich ›Schwarz‹.«

Gespitzte Ohren, gespitzte Federn

Luftig, warm, duftend: So stellt man sich die Geschichten vor, die in der GeschichtenBäckerei am Predigerplatz das Licht der Welt erblicken. Neugierig wage ich das Experiment und versuche mich unter Anleitung von Franz Kasperski im kreativen Schreiben.

In der GeschichtenBäckerei herrscht am Freitagmorgen Grossandrang: Der Workshop ist ausgebucht, alle Plätze sind besetzt. Die verwinkelten Altstadt-Räume mit Kaffeeküche versprühen eine gemütliche Atmosphäre; nichts scheint natürlicher, als sich hier an einen der Tische zu setzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Anfang 2020 öffnete die GeschichtenBäckerei ihre Tore, seither bieten Gabriela und Franz Kasperski hier Schreibkurse an. Beide sind seit Jahren als Autor*innen tätig und schöpfen aus einem grossen Erfahrungsschatz.

Wir starten heute mit einer Übung, die das Gehirn «in Aufregung versetzen» soll. Gemeinsam mit meiner Tischnachbarin verfasse ich schweigend eine Geschichte. Abwechslungsweise dürfen wir genau ein Wort festhalten – und tranieren in den folgenden Minuten unsere Frustrationstoleranz. Die Story rund um ein panamaisches Huhn kommt nur langsam in Schwung. Auch bei der anschliessenden Übung darf man die anderen Kursteilnehmer*innen nochmals richtig ins Schwitzen bringen: Wer auf das Wort «Teufel» reimen soll, wird sich gewiss ein paar Zähne ausbeissen.

Weiter geht es klassisch mit der Écriture automatique, wobei ohne Unterbruch geschrieben werden soll – ganz egal, was dabei auf das Papier kommt. Anschliessend müssen wir aus ebendiesen Texten einzelne Wörter herausgreifen und auf kleine Zettel übertragen. Meine Partnerin hält anschliessend Wort-Zettel für Wort-Zettel in die Höhe und ich soll im Teleprompterstil eine Geschichte «ablesen». Es ist leichter als gedacht, die disparaten Stichwörter in meiner Geschichte unterzubringen. Richtig knifflig wird es, wenn meine Partnerin länger kein Wort nachliefert und mir der zündende Impuls von aussen fehlt.

In der letzten Übung muss einer solchen Impro-Geschichte ein individuelles Ende angedichtet werden. Selbstredend entstehen ganz unterschiedliche kurze Erzählungen. Die neunzig Minuten sind schnell vorüber. Immer wieder gab Franz Kasperski Inputs, Regeln zum «guten Schreiben» werden hier aber keine gelehrt. Vielmehr geht es darum, die Lust am Prozess selbst zu wecken. Statt peinlichem Vorlesen vor versammeltem Plenum stehen herausfordernde und abwechslungsreiche Übungen zu zweit auf dem Programm. Immer wieder schallt lautes Lachen durch die Räume: In dieser unbeschwerten Atmosphäre braucht es glücklicherweise keinen Held*innenmut, um etwas zu wagen.

Prostitution: Zwischen Chance und Untergang

Gut 50 Personen versammelten sich am Donnerstagabend in einem Bücherladen in der Nähe der Langstrasse direkt hinter den Gleisen des Zürcher Hauptbahnhofs. Sie sind gekommen, um Aline Wüst zuzuhören, wie sie Geschichten von Prostituierten in der Schweiz erzählt. Sie sitzt vor einer Glasscheibe, hinter der die Züge in und aus dem Bahnhof fahren. Während sich die Zuhörer*innen bis kurz vor Beginn gut gelaunt miteinander austauschen, spürt man eine erhöhte Anspannung im Raum, als Aline Wüst beginnt, vorzulesen. Im Raum wird es mucksmäuschenstill. Nur im Hintergrund hört man leise das Summen der Lüftung und das Quietschen der Gleise.

Ein Zug fährt vorbei.

Aline Wüst erzählt von ihrer Arbeit, wie sie Tag für Tag in verschiedenen Puffs verbrachte, um mit den Frauen, die dort arbeiten, zu reden. Sie wollte jene Menschen hören, deren Stimme in der Gesellschaft nicht gehört werden. Ein Zug fährt vorbei. Die Geschichten, die sie erzählt, gehen unter die Haut. Sie erzählt von Rumäninnen, Bulgarinnen und Ukrainerinnen, die in die Schweiz geschickt werden, – wahrscheinlich kommen täglich Frauen in der Schweiz an – um hier als Gastarbeiterinnen Geld zu verdienen. Oftmals treffen sie in ihrer Heimat einen Mann, der ein schickes Auto fährt. Ein paar Monate später befinden sich die Frauen in einer Beziehung mit den Männern und es kommt so weit, dass diese die Frauen auffordern, in der Schweiz auf den Strich zu gehen; etwas, was sich die meisten ein paar Monate vorher nicht hätten vorstellen können. Doch durch die vorgespielte Liebe der Männer und der lange anwährenden Manipulation sehen die Frauen diese Idee als eine vielversprechende Chance an. Ein unverständliches Kopfschütteln geht durch die Menge, als Aline Wüst erzählt, dass diese Männer das auf dem Strich verdiente Geld den Frauen zum grössten Teil abnehmen und die Männer dies nicht nur mit einer, sondern oftmals mit mehreren Frauen gleichzeitig machen.

Ein Zug fährt vorbei.

In der Schweiz wird von Frauen vieles abverlangt. Ob und inwiefern es sich bei der Prostitution um einen ‹normalen› Beruf handelt, bleibt eine aktuelle Kontroverse. Die diskursive Darstellung von bezahlter Sexarbeit in den Medien und der Politik produziert andere Anschauungen, Anschauungen die Prostitution unter demselben Paradigma einordnen, unter dem auch zum Beispiel Detailhandelsfachkräfte oder Reinigungsfachkräfte zusammengefasst werden. Doch das, was die Frauen machen, die sich prostituieren, sei nicht normal, meint eine Sexarbeiterin, die aus Bulgarien kommt und deren Stimme mittels Tonaufnahme im Raum abgespielt wird. Die Freier behandeln die Frauen manchmal eher wie Objekte als Menschen. «Natürlich nicht alle», meint eine andere Sexarbeiterin, doch man fragt sich auch immer, ob hinter den Aussagen nicht eine Art schützender Euphemismus die Realität verzerrt. Die Alternativen für die Frauen sehen nicht vielversprechend aus. Viele sind nach ein paar Jahren in der Prostitution psychisch kaputt und leiden dann zum Beispiel an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Machtlosigkeit gesteht sich auch Aline Wüst ein, die ihre begrenzten Möglichkeiten dafür einsetzt, den Frauen zuzuhören und ihnen eine Stimme zu geben.

Ein Zug fährt vorbei.

Brahms auf der Couch

Emanuele Jannbelli

Ein Psychiater schreibt über einen Musiker, in unserem Fall Johannes Brahms. Wie wird das enden? Etwa auf der berühmten Couch? Nicht ganz… Die Medizin spielt im historischen Roman » Die Brahmskommode» zwar durchaus eine Rolle, aber nicht in dem Sinn, dass Brahms beim Psychiater und Autor Dr. Kaspar Wolfenberger in eine (fiktive) Sprechstunde gehen würde. 

Man fragt sich, wie ein Nichtmusiker auf die Idee kommen kann, ein solches Buch zu schreiben. Die Antwort ist schnell gefunden: Wolfensberger verbrachte im sogenannten Brahmshaus Alt-Nidelbad hoch über Rüschlikon, wo der berühmte Deutsche im Jahr 1774 einen glücklichen Sommer lang gewohnt und komponiert hatte, einen Teil der Jugendzeit. Der Fund einer alten, mit allerlei Gedenkstücken und Büchern vollgestopften Kommode, gab dann die Initialzündung. Am literarisch-musikalischen Abend vom Donnerstag, 28. Oktober im Salon Rehböckli an der Trittligase waren dies natürlich eines der Themen, das der Moderator Manfred Pabst mit seinem Gesprächspartner anriss. Umrahmt wurden das muntere Gespräch und die eingestreuten Ausschnitte aus dem Roman von brahmschen Klavierstücken, sensibel vorgetragen von Sharon Prushansky.

Ganz viele bekannte, sorgfältig recherchierte Fakten aus dem Leben von Brahms hat Wolfensberger in seine Story eingepackt; zu viele vielleicht, denn manchmal geht der Blick aufs Wesentliche etwas verloren und man erwischt sich bei der Frage, ob es 100 Seiten weniger nicht auch getan hätten. Schliesslich war ein historischer Roman angekündigt, nicht eine umfassende Biografie.

Das Wesentliche? Wolfensberger gab einen aufschlussreichen Hinweis: Brahms und seine Freunde Billroth, Hegar und Widmann in die Gegenwart hinüberzuziehen, sie in heutiger Sprache als ganz normale, lebendige Menschen erscheinen zu lassen, nicht als bärtige alte Männer der Gründerzeit, sei seine Absicht gewesen. Alt waren sie damals nach heutigen Massstäben ohnehin nicht, Brahms war zudem noch bartlos. Ist es Wolfensberger gelungen, den notorisch verschlossenen Hanseaten, der nach eigener Aussage nur durch seine Töne sprechen wollte, wenn nicht zu heilen, doch für Nicht-Musiker etwas zu öffnen? Spannende Frage! Nach diesem netten (behaglichen, hätte Brahms gesagt) Abend «en famille» zu urteilen: ja. Die Persönlichkeit des Autors und die klugen Fragen von Manfred Pabst taten ein Übriges. 

Als Buch hat Die Brahmskommode einen etwas schwereren Stand. Das Hin und Her zwischen persönlichen Erlebnissen um und mit dem Möbelstück in Zeiten von Corona und den historischen Gegebenheiten 150 Jahre früher gelingt nicht immer nahtlos, ständig läuft man Gefahr, den Faden zu verlieren. Und das Rätsel um seine eigene Herkunft ist nur dann wirklich spannend, wenn man das verschmitzte Gesichts Wolfensbergers vor sich hat. Nur mit dem Buch: naja… 

Mit Ernst recherchiert, mit Augenzwinkern vorgetragen – schade, dass dieser attraktive Antagonismus nur den Live-Abend prägte und nicht auch das literarische Werk, an dem ein Autor letztlich gemessen wird.

Übrigens: Die Frage, ob Wolfensberger den berühmten Komponisten gerne bei sich in einer Sprechstunde gehabt hätte, wurde tatsächlich gestellt. 

Wen wir erinnern

Der heutige Donnerstagabend ist Lou Andreas-Salomé gewidmet. Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea will Andreas-Salomé, die lange zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, wieder in unsere Erinnerung rufen: «Eine Feministin erster Stunde», deren Werk auch heute erstaunlich aktuell scheint. In Grigorceas Verlag telegramme wurden «Fenitschka» und «Das Haus», ein weiteres Werk Andreas-Salomés, neu aufgelegt.

Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea bei der Begrüssung zur Lesung im Modissa

Das Kleidergeschäft Modissa scheint für die Lesung auf den ersten Blick eher unpassend: Stuhlreihen stehen zwischen Kleiderstangen und ganz vorne die kleine Lesebühne. Nach dem ersten Eingewöhnen frage ich mich aber: Warum eigentlich nicht? Die Kollekte und der Ort dürften ein anderes Publikum ansprechen als in der Buchwelt üblich. 

Im Mittelpunkt von «Fenitschka» steht die junge Frau Fenia, die so gar nicht in das konventionelle Frauenbild des fin de siècle reinpasst. Warum? Weil Fenia studiert und mit Männern Freundschaften unterhält. Die Parallelen zur Biographie Andreas-Salomés sind deutlich: Als eine der ersten Studentinnen Europas besuchte Lou Andreas-Salomé im Jahr 1880 Philosophie- und Theologie-Vorlesungen an der Universität Zürich. Nachem sie ihr Studium aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste, zog sie nach Berlin und bereiste von dort aus Europa. Nun bewegte sich die Russin in den intellektuellen Kreisen von Wien, Paris und München und begann zu schreiben. «Fenitschka» wurde schliesslich 1898 veröffentlicht. Zu ihrem literarischen Freundeskreis zählen u. a. Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Rainer Maria Rilke befreundet. Leider wurde und wird die Schriftstellerin zu oft auf ihren Ruf als Muse der beiden reduziert. Dass sie selber schrieb, bleibt dabei oft unerwähnt. Auch darum finde ich diese heutige Lesung so schön!

Lou Andrea-Salomé hat das Zepter in der Hand:
Sie, Paul Rée und Friedrich Nietzsche 1882, © Jules Bonnet

Über eine Stunde lesen Ariela und Thomas Sarbacher aus der Novelle vor. Als Schauspieler:innen lesen sie so packend und stimmungsvoll, dass es die Zuhörer:innen in die Welt von «Fenitschka» eintauchen lässt. Besonders elegant: Nach einem Niesen im Publikum wünscht Sarbacher sogar mitten im Satz Gesundheit.

Ein weiteres wichtiges Thema des Buches sind die Unterschiede zwischen Frau und Mann. Besonders auffällig dabei ist, wie wenig Andreas-Salomé ihre Hauptfigur sprechen lässt: Fenia, die Protagonistin, lernen wir aus der Perspektive des Protagonisten Max kennen. Das männliche Subjekt untersucht also das weibliche Objekt. So liest Thomas Sarbacher auch deutlich länger und mehr vor. Umso stärker sind daher die Brüche, die entstehen, wenn Fenia durch Ariela Sarbacher zu Wort kommt.

Ariela und Thomas Sarbacher lesen aus «Fenitschka»

Etwas abrupt endet schliesslich die Lesung vor dem letzten Buchdrittel. Viele Zuhörer:innen dürften das Buch nun (nochmals) zu Ende lesen wollen. Wir wurden eingeladen, uns zu erinnern übers Vorlesen und danach: weiterzulesen! Zum Schluss erhalte ich die lang ersehnte Möglichkeit, «Fenitschka» endlich in einer schönen Ausgabe mit Nachhause zu nehmen, wo es nun stolz im Regal steht. Jetzt bleibt mir Lou Andreas-Salomé auch in ästhetischer Gestalt in Erinnerung.

Die hohe Kunst der Unterhaltung

Bücher, die der Unterhaltungsliteratur zugerechnet werden, stehen nicht im Fokus eines Literaturstudiums, finden aber Hundertausende von Leser*innen. Umso gespannter bin ich, als ich das türkise Erkerzimmer im «Karl der Grosse» betrete. Hier wird sich Christine Lötscher, Professorin für Populäre Genres an der Uni Zürich, mit vier heimlichen Schweizer Bestsellerautorinnen über ihr Schaffen unterhalten.

Gleich zu Beginn hält Christine Lötscher fest, dass eben nicht von ‹Trivialliteratur› gesprochen werden soll. Was heute im Fokus stehe sei «leicht zu lesen, aber schwer zu schreiben». Sie schlägt vor, stattdessen auf die Begriffe ‹Genreliteratur› oder ‹Unterhaltungsliteratur› zurückzugreifen. Bei Unterhaltungsromanen steht vor allem die Geschichte im Zentrum. Die Sprache ist Werkzeug und nicht Selbstzweck. Wichtig ist, dass sich die Leser*innen einerseits mit den Figuren identifizieren, andererseits aber auch in eine andere Welt abtauchen können. Grosse Gefühle, bildhafte Beschreibungen und ein spürbarer Genre-Bezug (etwa Krimi, Fantasy, Historienroman, Romanze) runden den perfekten Wohlfühl-Roman ab.

Nach dieser Einleitung kommen die Autorinnen – Ladina Bordoli, Claudia Dahinden, Nadine Gerber und Priska Lo Cascio – zu Wort. Mit ihren Büchern bedienen sie unterschiedliche Genres und auch ihre Arbeitsabläufe unterscheiden sich deutlich voneinader: Während Gerber bisher ihre vollendeten Romane in Eigenregie an Verlage geschickt hat, arbeiten Bordoli und Lo Cascio eng mit Literaturagenturen zusammen. Ihre Agent*innen machen sie auf besonders gefragte Themen aufmerksam und die Autorinnen schreiben die Romane danach quasi auf Auftrag. Gewisse Vorgaben sind damit gegeben, dennoch bleibt Raum für Kreativität. Dass Fantasie allein aber nicht ausreicht, macht besonders Dahinden klar, die von ihrem Schnuppertag im Uhrengewerbe erzählt – alles natürlich zu Recherchezwecken.

Gemeinsam ist den vier Autorinnen der Wunsch, Geschichten zu erzählen. Hinter dem Schreiben steckt aber selbstredend nicht nur Leidenschaft, sondern auch harte Arbeit. Wie löse ich Emotionen aus, ohne pathetisch zu werden? Wie beschreibe ich möglichst sinnlich, ohne alles flach herauszuposaunen? Wo lauern Klischees und wie komme ich zu authenthischen Geschichten? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Bordoli, Dahinden, Gerber und Lo Cascio immer wieder von Neuem.

Durchaus ein bisschen frustriert zeigen sich die Autorinnen vom Literaturbetrieb: Es sei schwierig, aus der grossen Masse herauszustechen, wenn man im Feuilleton keine Aufmerksamkeit erhalte. Alle vier fänden es schön, in den arrivierten Medien einmal Rezensionen zu den eigenen Bücher zu sehen. Auch einen Buchpreis für Unterhaltungsliteratur wäre in ihren Augen wünschenswert. Das Publikum stimmt dem in der anschliessenden Diskussion euphorisch zu. Die wenigen Besucher*innen sind entrüstet über die scharfe Trennung zwischen Unterhaltungs- und Hochliteratur, Begriffe wie ‹elitär› oder ‹Bildungsbürgertum› fallen.

Diese Verhärtung der Fronten trübt den sorgfältig moderierten und von den Autorinnen mit Witz und Verve bestrittenen Abend dann leider zum Schluss. Das «Etikett Hochliteratur» wird schliesslich sogar als Grund genannt, um ein Buch nicht zu kaufen. Ich zucke leicht zusammen und hoffe, dass man mir die Germanistikstudentin trotz Moleskine-Heft und Hornbrille nicht ansieht. Zuhause stelle ich Proust und Vergil zwischen meine Urlaubkrimis. Möge sich Dido heute einen Espresso und Commissaire Dupin ein in Tee getunktes Madeleine genehmigen.

Lidija liest Leben – 17 Jahre Tagebuch in 2 Stunden

Es gibt keine Emotion, die wir nicht mit ihm teilen, und: Es gibt kein Geheimnis, das wir ihm verschweigen. Wir lachen, weinen und sprechen mit oder zu ihm und wenn er unseren Herzschmerz vor dem Schlafen abgenommen hat, legen wir ihn unter unser Kopfkissen und träumen mit ihm. 1990, im Alter von 7 Jahren, beginnt Lidija Burčak ihrem Tagebuch ihre Erlebnisse zu erzählen. Rund 30 Jahre später teilt Burčak ebendiese Erlebnisse im Rahmen ihrer Lesung an Zürich liest mit der Öffentlichkeit. 

Dienstagabend im Kreis 5, kurz bevor Stunden- und Minutenzeiger einen Winkel von 120 Grad einschliessen – das heisst kurz vor 20.00 Uhr – ist die Zürcher Bar Gleis bis auf den letzten Platz gefüllt. Trotz der winterlichen Kälte draussen herrscht karibisches Klima in der Bar, und das nicht wegen der Klimaanlage, sondern wegen den Menschen, die hier sind. Es wird gelacht, getrunken, geplaudert und gespannt auf Lidija Burčak gewartet, die aus ihren Tagebüchern vorlesen wird, die neben einer niedlichen Tischlampe auf einem zierlichen Tisch zu einem eindrücklichen Turm gestapelt sind. 

Pünktlich setzt sich Burčak an ebendiesen Tisch mit der – es muss gesagt werden – niedlichen Tischlampe, macht einen kurzen Soundcheck und lächelt in die Runde, während sie dem eindrücklichen Bücherturm das erste Tagebuch entnimmt. 

Burčaks Tagebuchlebensgeschichte setzt im Jahr 1990 an und beginnt mit einem Mädchen, das bereits im Kindesalter wusste, was sie möchte – wie soll es auch anders sein. Ihre Lebenskraft, so schrieb sie damals in ihr Tagebuch, schöpfte sie aus der Hoffnung auf «spätere Freiheit». Dem Wunsch der Eltern, sich dem Basketball zu widmen, ging sie bis heute nicht nach. Bereits damals stand für sie fest, dass es etwas Künstlerisches sein soll: «Ich weiss genau, dass ich eines Tages auf der Bühne stehen oder vor der Kamera spielen oder sogar singen werde, ja das ist mein Traum», liest Burčak vor, die heute als Filmschaffende und Autorin tätig ist. Das Publikum schmunzelt. Dieses Prozedere wiederholt sich im Verlauf der Lesung unzählige Male. Burčak liest vor, das Publikum lächelt, grinst, schmunzelt oder kichert, weil sie, so der Anschein, Burčak persönlich kennen oder sich in Burčaks Tagebucheinträgen wiedererkennen.  

Es folgt ein Zeitsprung ins Jahr 2000. Burčak erzählt von ihrer ersten flüchtigen Liebe als junge Erwachsene und den ersten Existenzängsten während der Ausbildung als Kauffrau. Danach geht es um ihr erstes Mal im Jahr 2001. Trotz der Tatsache, dass Burčak aus ihrem Tagebuch vorliest und die ganze Lesung nicht zuletzt deshalb eine sehr intime Note bekommt, kippt das Erzählte nie ins Vulgäre. Im Gegenteil: Man ist peinlich berührt, erkennt sich selbst auf eine gewisse Art und Weise wieder, schaut links und rechts die Sitznachbar:innen an, zuckt die Schulter und nickt bestätigend dazu den Kopf. Wir kennen es nur zu gut: das Gefühl der Ratlosigkeit, Überforderung und Unsicherheit, gespickt mit einer grossen Menge Nervenkitzel. 

Über die Frage, «Was wett ich i mim Läbe als Lebensmittelpunkt ha?», zerbricht sich die 22-jährige Burčak den Kopf. Die ersten Ausgangserfahrungen sind gesammelt, der Kopf reifer, dennoch scheint es unbegreiflich für sie, wie gewisse Menschen in der Lage sind, eine Liebe für Aristoteles zu entwickeln. Ist schlussendlich auch irgendwie egal, und ja: auch hier erkennt sich der eine oder die andere wieder. Ganz pragmatisch schreibt sie in ihr Tagebuch – jetzt in Mundart: «Ich bin halt keis Genie, isch d’Missy Elliot aber au nöd, trotzdem het sie Millione», und lässt das Publikum erneut in Lachen ausbrechen, weil die Aussage mit Blick auf die damalige Zeit total amüsant ist und dem Aristoteles-Seitenhieb gleichzeitig den Wind aus den Segeln nimmt. 

Im Todesjahr von Michael Jackson war Burčak bei einer Radiostation angestellt und erzählt, dass sie einen Michael-Jackson-Beitrag abbrechen musste, weil es im «verfiggte Toggeburg brennt het». Auch hier kann sich niemand das Lachen verkneifen, weil Burčaks Erlebnisse – jetzt wo das Tagebuch wie gesagt in Mundart geschrieben ist und sich die Sprache mittlerweile mit mehr Kraftausdrücken schmückt – umso nahbarer wirkt. Plötzlich aber geht es um die Erfahrung von Rassismus und die Frage, weshalb engstirnige Schweizer:innen den Namen Burčak nicht richtig aussprechen können oder wollen, und um die Frage, wie Secondos und Secondas mit ihren Wurzeln umgehen sollen. Ausreissen? Verleugnen? Freien Lauf lassen? «Die göhnd mer alli uf de Sack», ertönt es von der Bühne, und für einen Moment ist man sich nicht mehr so sicher, ob die Aussage nicht improvisiert war. Aber auch hier scheinen sich alle einig zu sein: Diese Aussage passt! Ganz gleichgültig, ob sie vor zehn Jahren oder heute gemacht wurde. 

Gegen Schluss der Lesung führt Burčak die Zuhörer*innen auf eine Metaebene, indem sie vorliest, was ihr das Tagebuchschreiben eigentlich bringt. Sie habe sich damals selber erklärt, dass es sie sowohl charakterlich als auch im Hinblick auf das Leben bestärkt habe, ihrem Tagebuch persönliche Gedanken anvertrauen zu können. Dadurch habe sie realisiert, wie vergänglich Probleme sind und wie wichtig es sei, die eigenen Gedanken regelmässig zu reflektieren.

Rückblickend kann man sagen, dass am Eröffnungstag von Zürich liest mit Lidija liest Leben eine überaus amüsante, packende und emotionale Lesung im vollgefüllten Zürcher Gleis stattfand. Mit ihren Tagebucheinträgen liess Burčak das Publikum an ihre tiefsten Gedanken und Gefühle aus einer Zeitspanne von rund drei Jahrzehnten heran und illustrierte, ganz ohne Kitsch, dass wir als Menschen letzten Endes mehr Gemeinsamkeiten als Divergenzen haben.