Figuren, die sich selbst zurechtkneten

Mit warmen Worten kündigte die Leiterin der Buchhandlung Nievergelt in Oerlikon die ortsansässige Schriftstellerin Judith Keller an. Gemeinsam mit Sebastian Ryser erweckte die junge Autorin ihren Debütroman Oder? in einer szenischen Lesung zum Leben. Der Anlass nahm das Publikum mit auf eine Irrfahrt durch die Geschichte der eigenen Herkunft und folgte der Fährte, die sich die Romanfiguren selbst erschaffen. Die beiden Protagonistinnen kommen nämlich schon zu Beginn zum Schluss, dass sie «keiner Handlung dienen», sondern «nur noch Spuren hinterlassen» wollen.

Im Rahmen der Aufführung trug Keller eine gekürzte Version von Oder? vor. Sie verlangte ihren Zuhörern einiges an Konzentration ab. Der Text ist mosaikartig zusammengesetzt und versucht gerade eben keinen schlüssigen Plot zu skizzieren, sondern in seiner Schreiblust so manche Stimme auszuprobieren, hinter sich zu lassen, wieder aufzunehmen. Beispielsweise flocht Keller verschiedene Zitate – von Lexikoneinträgen über Hölderlin bis zu Anspielungen auf die griechische Mythologie – in ihren Text. Es geht darum, aus den unzähligen anderen Stimmen die eigene herauszuhören. Die Protagonistin Alice Kneter will ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen, sich selbst formen.

Die Klanglichkeit des Romans kam im Vortrag besonders gut zur Geltung. So schienen aus der Erzählung immer wieder einzelne Sätze auf, welche die Aufmerksamkeit auf sich zogen, da sie klangliche oder inhaltliche Verschiebungen vornahmen. Zum Beispiel ging es unter dem Untertitel «Lohn» um Platon, eine heruntergekommene Frau, die Geld für’s Verstehen verlangte. Wieder andere Verschiebungen lenkten den Fokus auf die Literarizität des Textes. Besonders gelungen war in diesem Zusammenhang ein Brief, den Keller und Ryser synchron vorlasen und welcher die Doppelung von Schreibenden und Lesenden aufzuführen vermochte.

Oder? ist ein Roman, innerhalb dem Zeit und Raum in Buchseiten gemessen werden. Kurzum: Er führt die Wirkungsmacht der eigenen Geschichte vor Augen – und die «brätscht»!

Ein Plädoyer für das Primat der Sprache

Die Einführung zu Lukas Bärfuss stellte den Autor als einen public intellectual vor, der nicht nur im Literarischen seine Stimme an die Öffentlichkeit trägt, sondern sich auch sonst gerne in verschiedenste Diskurse einmischt. Den Beweis dafür lieferte Bärfuss gleich in seinen eröffnenden Worten: gefragt, ob er die Zentralbibliothek häufig besuche, rühmte der Schriftsteller die Möglichkeiten und Privilegien, welche die Freihandbibliothek bietet, und appellierte daran, davon Gebrauch zu machen. Er selbst ginge jeweils durch die Gänge und greife sich einfach ein Buch heraus, um aus seiner Bubble herauszugelangen.

Bärfuss verriet im Gespräch mit Moderatorin Martina Läubli, wie er zum Schriftsteller wurde. Alles beging ganz einfach: mit einer Behauptung. Einer Vorstellung. Und damit auch einem Ziel. Mittlerweile ist Schreiben für Bärfuss «eine Existenzform, eine Art, sich zur Welt zu verhalten», wie Läubli es formulierte. In diesem Sinne ist Schreiben für den Autor keine einsame Arbeit. Vielmehr tritt Bärfuss in ein Verhältnis mit einem Gegenüber, welches er sich erschafft. Im Zwiegespräch mit seinem Bewusstsein, macht der Autor die Beziehung zwischen dem Selbst und der Welt für das Schreiben fruchtbar.

Im Rahmen der Veranstaltung las Lukas Bärfuss zwei Geschichten aus seinem Erzählband Malinois vor. In der ersten, mit dem Titel Safety First oder Etwas über die Lüge, geht der Autor der Relativität der Lüge nach, die je nach Standpunkt anders bewertet werden muss. In einer guten Erzählung, so der Schriftsteller, heben sich Lüge und Wahrheit gegenseitig auf. Im Zentrum eines Textes steht nämlich seine Anschaulichkeit. Gute Geschichten enthielten ihre eigene Wahrheit, meinte der Schriftsteller.

Der zündende Funke für eine Erzählung ist für Bärfuss ein Gefühl, ein Bild oder ein Problem, das ihn nicht loslässt. Um herauszufinden, was ihn daran herumtreibt, erkunde er die eigene Vorstellung mittels Sprache. Aus dem Fortgang des Gesprächs zog Bärfuss die Erkenntnis, dass er eigentlich einen Text verfassen müsste über den grossen Einfluss, den Sprache und Vorstellung auf unser Bewusstsein haben. Pointiert meinte er: «Alles, was ist, war zuerst eine Vorstellung, ein Gedanke – dieser Raum, alle Kleider, die wir tragen, und so weiter!» Besonders der Umstand, dass die Wichtigkeit von Sprache und Vorstellung kaum Teil des Allgemeinwissens sei, schockierte den Wortkünstler; gerade in Zeiten von politischer Manipulation und Fake News.

Die Lesung führte vor, wie wichtig die klangliche und rhythmische Komponente seiner Geschichten für Bärfuss sind. Die Texte des Büchner-Preisträgers entwickeln eine eigene Dynamik, in denen Bilder aufscheinen, sich verwandeln, vorbeiziehen. Zurück bleibt dennoch eine gewisse Spannung und Rätselhaftigkeit, denn «nur so bleibt etwas zum Nachdenken übrig».  

Hannah Arendt im Scheinwerferlicht

Wer am 10.10. das Dolder Grand in der Erwartung betrat, eine Lesung mit gelegentlichen Gesangseinlagen zu geniessen, wurde wohl überrascht. Dem Publikum bot sich eine Show, die den Roman nicht nur vorstellte, sondern eher komplementierte. Neben Stellen aus Hildegard Kellers neuem Roman Was wir scheinen und einigen der darin vorkommenden Lieder (von Mani Matter über Piaf bis zu Janis Joplin) bot die multimediale Performance-Lesung auch die Uraufführung von fünf Gedichten von Arendt (Komposition: Sandra Suter und Hildegard Keller, Klavierbearbeitung: Peter Zihlmann).

Hildegard Kellers Debütroman widmet sich Hannah Arendt und schaut der bedeutenden Denkerin beim Arbeiten, Philosophieren, Lachen, Feiern, Kämpfen und Dichten über die Schulter. Keller meinte, sie habe «sich viele Jahre mit Hannah Arendt unterhalten». Arendts Themen spielen somit auch für den Roman eine zentrale Rolle: die Suche nach Wahrheit und den eigenen Träumen, die Forderung nach Menschlichkeit und die Beschäftigung mit dem Individuum, das für sich alleine steht und gleichzeitig Verbindungen mit anderen eingeht.

Die Buchgala war ausverkauft und fand im Ballroom des Dolder Grand statt, da Hannah Arendt dort zwei Mal mit ihrem Mann zu Gast gewesen ist. Nicht nur die Location, sondern auch die Verköstigung im Anschluss an die Vorstellung leitete sich aus dem Roman her: In zwei Kapiteln wird von Arendts Begegnung mit Ingeborg Bachmann erzählt, einmal anlässlich eines Frühstücks mit Rührei mit Speck.

Zu wissen, dass die Figur, welche den Roman inspirierte, einst durch dieselben Gänge gewandelt war und die gleiche Aussicht genossen hatte, verlieh dem Anlass eine besondere Atmosphäre. Insgesamt war die Gala sehr stimmig: die Beleuchtung, die Musik, die projizierten Bilder und Videoausschnitte sowie der literarische Text fusionierten auf harmonische Weise.

Besonders eindrücklich war ein adaptiertes und vertontes Gedicht von Hannah Arendt, welches folgendermassen beginnt:

Ich bin ja nur ein kleiner Punkt
nicht größer als der schwarze
der dort auf dem Papiere prunkt
als Anfang zum Quadrate.

Das Staccato in der ersten Strophe unterstreicht die Nichtigkeit eines einzelnen, kleinen Punktes. In der zweiten Strophe erscheint ein weiterer kleiner Punkt, der die Perspektive eines zweifelnden Gegenübers einnimmt. Gemeinsam machen die beiden winzigen Pünktchen aber bereits einen Schritt in Richtung Quadrat.

Kellers Sprache ist wortgewandt mit viel Witz. Der Roman macht aus Hannah Arendt eine Figur, die einerseits durch die fiktive Ausgestaltung mittels weitgehend unbekanntem Recherchematerial von dem bekannten Arendt-Bild wegrückt und andererseits durch die lebendige Erzählung näher fassbar wird.

Fotos: Stefan Kottonau

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Köln (Eichborn) 2021.

Für uns bei «Zürich liest»: Julia Sutter

Zwischen Zügeln und Zwischenprüfungen finde ich auch dieses Jahr Zeit für Zürich liest und geselle mich zu den Lesefreudigen. Ich besuche eine Buchvernissage und Matinee im Dolder, ein Gespräch über die Geschichte der Geschichte und eine szenische Lesung mit dem Titel Oder?.

Seit einigen Jährchen nun studiere ich Germanistik und Anglistik, bin es aber noch längst nicht müde! Ich freue mich auf anregende Lesungen.