Prostitution: Zwischen Chance und Untergang

Gut 50 Personen versammelten sich am Donnerstagabend in einem Bücherladen in der Nähe der Langstrasse direkt hinter den Gleisen des Zürcher Hauptbahnhofs. Sie sind gekommen, um Aline Wüst zuzuhören, wie sie Geschichten von Prostituierten in der Schweiz erzählt. Sie sitzt vor einer Glasscheibe, hinter der die Züge in und aus dem Bahnhof fahren. Während sich die Zuhörer*innen bis kurz vor Beginn gut gelaunt miteinander austauschen, spürt man eine erhöhte Anspannung im Raum, als Aline Wüst beginnt, vorzulesen. Im Raum wird es mucksmäuschenstill. Nur im Hintergrund hört man leise das Summen der Lüftung und das Quietschen der Gleise.

Ein Zug fährt vorbei.

Aline Wüst erzählt von ihrer Arbeit, wie sie Tag für Tag in verschiedenen Puffs verbrachte, um mit den Frauen, die dort arbeiten, zu reden. Sie wollte jene Menschen hören, deren Stimme in der Gesellschaft nicht gehört werden. Ein Zug fährt vorbei. Die Geschichten, die sie erzählt, gehen unter die Haut. Sie erzählt von Rumäninnen, Bulgarinnen und Ukrainerinnen, die in die Schweiz geschickt werden, – wahrscheinlich kommen täglich Frauen in der Schweiz an – um hier als Gastarbeiterinnen Geld zu verdienen. Oftmals treffen sie in ihrer Heimat einen Mann, der ein schickes Auto fährt. Ein paar Monate später befinden sich die Frauen in einer Beziehung mit den Männern und es kommt so weit, dass diese die Frauen auffordern, in der Schweiz auf den Strich zu gehen; etwas, was sich die meisten ein paar Monate vorher nicht hätten vorstellen können. Doch durch die vorgespielte Liebe der Männer und der lange anwährenden Manipulation sehen die Frauen diese Idee als eine vielversprechende Chance an. Ein unverständliches Kopfschütteln geht durch die Menge, als Aline Wüst erzählt, dass diese Männer das auf dem Strich verdiente Geld den Frauen zum grössten Teil abnehmen und die Männer dies nicht nur mit einer, sondern oftmals mit mehreren Frauen gleichzeitig machen.

Ein Zug fährt vorbei.

In der Schweiz wird von Frauen vieles abverlangt. Ob und inwiefern es sich bei der Prostitution um einen ‹normalen› Beruf handelt, bleibt eine aktuelle Kontroverse. Die diskursive Darstellung von bezahlter Sexarbeit in den Medien und der Politik produziert andere Anschauungen, Anschauungen die Prostitution unter demselben Paradigma einordnen, unter dem auch zum Beispiel Detailhandelsfachkräfte oder Reinigungsfachkräfte zusammengefasst werden. Doch das, was die Frauen machen, die sich prostituieren, sei nicht normal, meint eine Sexarbeiterin, die aus Bulgarien kommt und deren Stimme mittels Tonaufnahme im Raum abgespielt wird. Die Freier behandeln die Frauen manchmal eher wie Objekte als Menschen. «Natürlich nicht alle», meint eine andere Sexarbeiterin, doch man fragt sich auch immer, ob hinter den Aussagen nicht eine Art schützender Euphemismus die Realität verzerrt. Die Alternativen für die Frauen sehen nicht vielversprechend aus. Viele sind nach ein paar Jahren in der Prostitution psychisch kaputt und leiden dann zum Beispiel an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Machtlosigkeit gesteht sich auch Aline Wüst ein, die ihre begrenzten Möglichkeiten dafür einsetzt, den Frauen zuzuhören und ihnen eine Stimme zu geben.

Ein Zug fährt vorbei.

Brahms auf der Couch

Emanuele Jannbelli

Ein Psychiater schreibt über einen Musiker, in unserem Fall Johannes Brahms. Wie wird das enden? Etwa auf der berühmten Couch? Nicht ganz… Die Medizin spielt im historischen Roman » Die Brahmskommode» zwar durchaus eine Rolle, aber nicht in dem Sinn, dass Brahms beim Psychiater und Autor Dr. Kaspar Wolfenberger in eine (fiktive) Sprechstunde gehen würde. 

Man fragt sich, wie ein Nichtmusiker auf die Idee kommen kann, ein solches Buch zu schreiben. Die Antwort ist schnell gefunden: Wolfensberger verbrachte im sogenannten Brahmshaus Alt-Nidelbad hoch über Rüschlikon, wo der berühmte Deutsche im Jahr 1774 einen glücklichen Sommer lang gewohnt und komponiert hatte, einen Teil der Jugendzeit. Der Fund einer alten, mit allerlei Gedenkstücken und Büchern vollgestopften Kommode, gab dann die Initialzündung. Am literarisch-musikalischen Abend vom Donnerstag, 28. Oktober im Salon Rehböckli an der Trittligase waren dies natürlich eines der Themen, das der Moderator Manfred Pabst mit seinem Gesprächspartner anriss. Umrahmt wurden das muntere Gespräch und die eingestreuten Ausschnitte aus dem Roman von brahmschen Klavierstücken, sensibel vorgetragen von Sharon Prushansky.

Ganz viele bekannte, sorgfältig recherchierte Fakten aus dem Leben von Brahms hat Wolfensberger in seine Story eingepackt; zu viele vielleicht, denn manchmal geht der Blick aufs Wesentliche etwas verloren und man erwischt sich bei der Frage, ob es 100 Seiten weniger nicht auch getan hätten. Schliesslich war ein historischer Roman angekündigt, nicht eine umfassende Biografie.

Das Wesentliche? Wolfensberger gab einen aufschlussreichen Hinweis: Brahms und seine Freunde Billroth, Hegar und Widmann in die Gegenwart hinüberzuziehen, sie in heutiger Sprache als ganz normale, lebendige Menschen erscheinen zu lassen, nicht als bärtige alte Männer der Gründerzeit, sei seine Absicht gewesen. Alt waren sie damals nach heutigen Massstäben ohnehin nicht, Brahms war zudem noch bartlos. Ist es Wolfensberger gelungen, den notorisch verschlossenen Hanseaten, der nach eigener Aussage nur durch seine Töne sprechen wollte, wenn nicht zu heilen, doch für Nicht-Musiker etwas zu öffnen? Spannende Frage! Nach diesem netten (behaglichen, hätte Brahms gesagt) Abend «en famille» zu urteilen: ja. Die Persönlichkeit des Autors und die klugen Fragen von Manfred Pabst taten ein Übriges. 

Als Buch hat Die Brahmskommode einen etwas schwereren Stand. Das Hin und Her zwischen persönlichen Erlebnissen um und mit dem Möbelstück in Zeiten von Corona und den historischen Gegebenheiten 150 Jahre früher gelingt nicht immer nahtlos, ständig läuft man Gefahr, den Faden zu verlieren. Und das Rätsel um seine eigene Herkunft ist nur dann wirklich spannend, wenn man das verschmitzte Gesichts Wolfensbergers vor sich hat. Nur mit dem Buch: naja… 

Mit Ernst recherchiert, mit Augenzwinkern vorgetragen – schade, dass dieser attraktive Antagonismus nur den Live-Abend prägte und nicht auch das literarische Werk, an dem ein Autor letztlich gemessen wird.

Übrigens: Die Frage, ob Wolfensberger den berühmten Komponisten gerne bei sich in einer Sprechstunde gehabt hätte, wurde tatsächlich gestellt. 

Wen wir erinnern

Der heutige Donnerstagabend ist Lou Andreas-Salomé gewidmet. Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea will Andreas-Salomé, die lange zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, wieder in unsere Erinnerung rufen: «Eine Feministin erster Stunde», deren Werk auch heute erstaunlich aktuell scheint. In Grigorceas Verlag telegramme wurden «Fenitschka» und «Das Haus», ein weiteres Werk Andreas-Salomés, neu aufgelegt.

Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea bei der Begrüssung zur Lesung im Modissa

Das Kleidergeschäft Modissa scheint für die Lesung auf den ersten Blick eher unpassend: Stuhlreihen stehen zwischen Kleiderstangen und ganz vorne die kleine Lesebühne. Nach dem ersten Eingewöhnen frage ich mich aber: Warum eigentlich nicht? Die Kollekte und der Ort dürften ein anderes Publikum ansprechen als in der Buchwelt üblich. 

Im Mittelpunkt von «Fenitschka» steht die junge Frau Fenia, die so gar nicht in das konventionelle Frauenbild des fin de siècle reinpasst. Warum? Weil Fenia studiert und mit Männern Freundschaften unterhält. Die Parallelen zur Biographie Andreas-Salomés sind deutlich: Als eine der ersten Studentinnen Europas besuchte Lou Andreas-Salomé im Jahr 1880 Philosophie- und Theologie-Vorlesungen an der Universität Zürich. Nachem sie ihr Studium aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste, zog sie nach Berlin und bereiste von dort aus Europa. Nun bewegte sich die Russin in den intellektuellen Kreisen von Wien, Paris und München und begann zu schreiben. «Fenitschka» wurde schliesslich 1898 veröffentlicht. Zu ihrem literarischen Freundeskreis zählen u. a. Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Rainer Maria Rilke befreundet. Leider wurde und wird die Schriftstellerin zu oft auf ihren Ruf als Muse der beiden reduziert. Dass sie selber schrieb, bleibt dabei oft unerwähnt. Auch darum finde ich diese heutige Lesung so schön!

Lou Andrea-Salomé hat das Zepter in der Hand:
Sie, Paul Rée und Friedrich Nietzsche 1882, © Jules Bonnet

Über eine Stunde lesen Ariela und Thomas Sarbacher aus der Novelle vor. Als Schauspieler:innen lesen sie so packend und stimmungsvoll, dass es die Zuhörer:innen in die Welt von «Fenitschka» eintauchen lässt. Besonders elegant: Nach einem Niesen im Publikum wünscht Sarbacher sogar mitten im Satz Gesundheit.

Ein weiteres wichtiges Thema des Buches sind die Unterschiede zwischen Frau und Mann. Besonders auffällig dabei ist, wie wenig Andreas-Salomé ihre Hauptfigur sprechen lässt: Fenia, die Protagonistin, lernen wir aus der Perspektive des Protagonisten Max kennen. Das männliche Subjekt untersucht also das weibliche Objekt. So liest Thomas Sarbacher auch deutlich länger und mehr vor. Umso stärker sind daher die Brüche, die entstehen, wenn Fenia durch Ariela Sarbacher zu Wort kommt.

Ariela und Thomas Sarbacher lesen aus «Fenitschka»

Etwas abrupt endet schliesslich die Lesung vor dem letzten Buchdrittel. Viele Zuhörer:innen dürften das Buch nun (nochmals) zu Ende lesen wollen. Wir wurden eingeladen, uns zu erinnern übers Vorlesen und danach: weiterzulesen! Zum Schluss erhalte ich die lang ersehnte Möglichkeit, «Fenitschka» endlich in einer schönen Ausgabe mit Nachhause zu nehmen, wo es nun stolz im Regal steht. Jetzt bleibt mir Lou Andreas-Salomé auch in ästhetischer Gestalt in Erinnerung.