Paranoia Wunderwelt

Eng ist es. Eng sind die Bücher, Magazine, Kartenständer und Stühle aufgestellt. Nur die Menschen stehen nicht eng aneinander. Drei junge Freunde sitzen im Hintergrund auf bequemen Sesseln und sehen aus, als wären sie in ihrem Wohnzimmer. Einfach toll so eine Buchhandlung. «Paranoia», so der Name, ist hier nicht Programm. Zum Glück. Es ist vielmehr sehr heimelig und liebevoll. ‹Cozy› würde man in einem Blog schreiben. Was ich ja versuche.

Ein Hauch von Wes Anderson spürt man.

Hier liest heute Jörg Rehmann aus seinem Debütroman «Herr Wunderwelt» vor. Seraina Kobler, die Moderatorin der Lesung, wirkt ein bisschen nervös (ich übrigens auch), aber das wird sich legen. Sie eröffnet den Abend mit der lockeren Einstiegsfrage, was den das Lieblingsessen aus den Jugendtagen von Jörg Rehmann sei. «Fischlefunker» (so spricht man es aus), eine Suppe aus Lebkuchen, die es nur an Weihnachten von der Oma gab, so die Antwort vom Autor. Schnell wird klar, allzu formal wird das hier heute nicht. Gut so.

Herr Rehmann beginnt aber bei der Form des Romans. Dieser hat zwei Erzählstränge, die ineinander verschlungen erzählt werden. Da sind die Kinder- und Jugendjahre von Dirk Sehmann, dem Hauptprotagonisten und Ich-Erzähler, die von den Eigenheiten der Adoleszenz in der DDR berichten. Der zweite Strang erzählt die Jahre ab der Flucht von Dirk nach Westberlin mit 23 und sein wWandeln zwischen der Alltagswelt und dem Nachtleben in der Queer-Szene. Es soll kein Schelmenroman sein, so Rehmann, aber der Protagonist Dirk hat etwas schelmenhaftes an sich. Er angelt sich ein Job als Pfleger in einer Altersresidenz, ohne die notwendige Ausbildung abgeschlossen zu haben. Immer wieder flüchtet Dirk in erfundene Biografien und in seine Fantasie. «Herr Wunderwelt» ist deshalb ein passender Titel für den Roman.

Jörg Rehmann spricht mit ruhiger aber kräftiger Stimme. Er lacht viel. Im Publikum ist es still, nur mein Magen knurrt. Gut trinke ich Bier. Hat ja Kohlenhydrate, wie man weiss.

Man spürt, wie viel Zeit Jörg Rehmann mit der Figur Dirk verbracht hat. Zwischen den Leseblöcken erfahren wir einige Details, die so im Buch nicht zu lesen sind. Überhaupt gibt sich Herr Rehmann in den Lesepausen sehr offen und plaudert aus dem Nähkästchen. Zum Beispiel, dass im Buch kein ostalgischer Blick transportiert werden sollte. Es sei ein grosser zeitlicher Abstand zu den Geschehnissen notwendig gewesen, um die Geschichte mit Leichtigkeit und Humor zu schreiben, dennoch soll sie nichts beschönigen. Bei der abschliessenden Fragerunde zeigt sich das Publikum zurückhaltend. Mich würde dann noch interessieren, wie der Autor zu anderen Ostromanen wie zum Beispiel «Herr Lehmann» steht. Diesen hat er bewusst nicht vor Abschluss von «Herr Wunderwelt» gelesen, so Rehmann, aus Angst sich zu stark an ihm zu orientieren.

Seraina Kobler schaut auf die Uhr. 20 Minuten überzogen. Also Zeit abzuschliessen. Mein Arsch tut auch schon ein wenig weh.

Figuren, die sich selbst zurechtkneten

Mit warmen Worten kündigte die Leiterin der Buchhandlung Nievergelt in Oerlikon die ortsansässige Schriftstellerin Judith Keller an. Gemeinsam mit Sebastian Ryser erweckte die junge Autorin ihren Debütroman Oder? in einer szenischen Lesung zum Leben. Der Anlass nahm das Publikum mit auf eine Irrfahrt durch die Geschichte der eigenen Herkunft und folgte der Fährte, die sich die Romanfiguren selbst erschaffen. Die beiden Protagonistinnen kommen nämlich schon zu Beginn zum Schluss, dass sie «keiner Handlung dienen», sondern «nur noch Spuren hinterlassen» wollen.

Im Rahmen der Aufführung trug Keller eine gekürzte Version von Oder? vor. Sie verlangte ihren Zuhörern einiges an Konzentration ab. Der Text ist mosaikartig zusammengesetzt und versucht gerade eben keinen schlüssigen Plot zu skizzieren, sondern in seiner Schreiblust so manche Stimme auszuprobieren, hinter sich zu lassen, wieder aufzunehmen. Beispielsweise flocht Keller verschiedene Zitate – von Lexikoneinträgen über Hölderlin bis zu Anspielungen auf die griechische Mythologie – in ihren Text. Es geht darum, aus den unzähligen anderen Stimmen die eigene herauszuhören. Die Protagonistin Alice Kneter will ihre Geschichte selbst in die Hand nehmen, sich selbst formen.

Die Klanglichkeit des Romans kam im Vortrag besonders gut zur Geltung. So schienen aus der Erzählung immer wieder einzelne Sätze auf, welche die Aufmerksamkeit auf sich zogen, da sie klangliche oder inhaltliche Verschiebungen vornahmen. Zum Beispiel ging es unter dem Untertitel «Lohn» um Platon, eine heruntergekommene Frau, die Geld für’s Verstehen verlangte. Wieder andere Verschiebungen lenkten den Fokus auf die Literarizität des Textes. Besonders gelungen war in diesem Zusammenhang ein Brief, den Keller und Ryser synchron vorlasen und welcher die Doppelung von Schreibenden und Lesenden aufzuführen vermochte.

Oder? ist ein Roman, innerhalb dem Zeit und Raum in Buchseiten gemessen werden. Kurzum: Er führt die Wirkungsmacht der eigenen Geschichte vor Augen – und die «brätscht»!

Unter uns, aber unsichtbar

Die Idee zum Buch «Die Unsichtbaren» von Tanja Polli und Ursula Markus entstand während der Corona-Krise. Die Pandemie brachte die Situation der sogenannten Sans-Papiers in der Schweiz ans Licht. Menschen standen im Zürcher Kreis 4 Schlange für Grundnahrungsmittel und die Autorinnen begannen sich dafür zu interessieren, wer diese Menschen eigentlich sind. Auch die Medien berichteten zu Beginn des Lockdowns viel über die Sans-Papiers, doch die Aufmerksamkeit flachte schnell wieder ab, wie der ehemalige Sans-Papier Weimar Arnez in der Poduiumsdiskussion berichtet.

Die Buchvernissage und die anschliessende Diskussion geben sowohl Grund zur Hoffnung als auch zur grossen Verständnislosigkeit. Tanja Polli präsentiert zu Beginn Auszüge aus den einzelnen Portraits der Sans-Papiers, und schnell wird klar, eines haben sie alle gemeinsam: Sie alle wollen ihren Kindern eine bessere Zukunft ermöglichen und Arbeiten dafür extrem hart. Sie putzen, kochen, arbeiten als Nanny, Coiffeuse oder Sexarbeiterin und leben mit der Angst aufzufliegen. Sie sind gezwungen unter prekären Arbeitsverhältnissen und skandalös tiefen Löhnen illegal zu arbeiten. Der einzige Ausweg aus der Illegalität scheint meist nur durch Heirat zu gelingen – so auch in einigen Portraits beschrieben.

Mit ihrem Buch möchten Tanja Polli (Text) und Ursula Markus (Fotos) den Unsichtbaren ein Gesicht und eine Stimme geben. Und damit nicht genug, auch bei der Vernissage sind einige der Portraitierten anwesend, zeigen sich nach der Lesung ihrer Geschichte kurz auf der Bühne. Einige richten sogar noch ein paar Worte ans Publikum. Es ist beeindruckend, die Geschichten dieser unterschiedlichen Menschen zu hören und sie anschliessend auf der Bühne zu sehen. In der Podiumsdiskussion wurde die Schweizer Justiz von den Sans-Papiers kritisiert und Fragen vom Publikum direkt beantwortet, was ein sehr authentisches Gespräch ermöglichte. Auch Bea Schwager der Sans-Papier Anlaufstelle (SPAZ) kritisiert immer wieder, dass diese Personen keine Möglichkeit haben, sich zu wehren. Die Angst oder Chance verhaftet oder ausgeschafft zu werden überwiegt fast immer.

Zu guter Letzt stellt sich die Frage, was wir als Gesellschaft beitragen können, um diesen Menschen zu helfen? Weimar Arnez hat darauf eine klare Antwort: Geht abstimmen! Wenn man Politiker*innen wählt, die sich für Migrant*innen einsetzten, leiste man bereits einen Beitrag, so Arnez. Er schliesst sein Votum mit einem Zitat von Bea Schwager: «Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn Menschen ihre Grundrechte nicht wahrnehmen können.»