Hannah Arendt im Scheinwerferlicht

Wer am 10.10. das Dolder Grand in der Erwartung betrat, eine Lesung mit gelegentlichen Gesangseinlagen zu geniessen, wurde wohl überrascht. Dem Publikum bot sich eine Show, die den Roman nicht nur vorstellte, sondern eher komplementierte. Neben Stellen aus Hildegard Kellers neuem Roman Was wir scheinen und einigen der darin vorkommenden Lieder (von Mani Matter über Piaf bis zu Janis Joplin) bot die multimediale Performance-Lesung auch die Uraufführung von fünf Gedichten von Arendt (Komposition: Sandra Suter und Hildegard Keller, Klavierbearbeitung: Peter Zihlmann).

Hildegard Kellers Debütroman widmet sich Hannah Arendt und schaut der bedeutenden Denkerin beim Arbeiten, Philosophieren, Lachen, Feiern, Kämpfen und Dichten über die Schulter. Keller meinte, sie habe «sich viele Jahre mit Hannah Arendt unterhalten». Arendts Themen spielen somit auch für den Roman eine zentrale Rolle: die Suche nach Wahrheit und den eigenen Träumen, die Forderung nach Menschlichkeit und die Beschäftigung mit dem Individuum, das für sich alleine steht und gleichzeitig Verbindungen mit anderen eingeht.

Die Buchgala war ausverkauft und fand im Ballroom des Dolder Grand statt, da Hannah Arendt dort zwei Mal mit ihrem Mann zu Gast gewesen ist. Nicht nur die Location, sondern auch die Verköstigung im Anschluss an die Vorstellung leitete sich aus dem Roman her: In zwei Kapiteln wird von Arendts Begegnung mit Ingeborg Bachmann erzählt, einmal anlässlich eines Frühstücks mit Rührei mit Speck.

Zu wissen, dass die Figur, welche den Roman inspirierte, einst durch dieselben Gänge gewandelt war und die gleiche Aussicht genossen hatte, verlieh dem Anlass eine besondere Atmosphäre. Insgesamt war die Gala sehr stimmig: die Beleuchtung, die Musik, die projizierten Bilder und Videoausschnitte sowie der literarische Text fusionierten auf harmonische Weise.

Besonders eindrücklich war ein adaptiertes und vertontes Gedicht von Hannah Arendt, welches folgendermassen beginnt:

Ich bin ja nur ein kleiner Punkt
nicht größer als der schwarze
der dort auf dem Papiere prunkt
als Anfang zum Quadrate.

Das Staccato in der ersten Strophe unterstreicht die Nichtigkeit eines einzelnen, kleinen Punktes. In der zweiten Strophe erscheint ein weiterer kleiner Punkt, der die Perspektive eines zweifelnden Gegenübers einnimmt. Gemeinsam machen die beiden winzigen Pünktchen aber bereits einen Schritt in Richtung Quadrat.

Kellers Sprache ist wortgewandt mit viel Witz. Der Roman macht aus Hannah Arendt eine Figur, die einerseits durch die fiktive Ausgestaltung mittels weitgehend unbekanntem Recherchematerial von dem bekannten Arendt-Bild wegrückt und andererseits durch die lebendige Erzählung näher fassbar wird.

Fotos: Stefan Kottonau

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Köln (Eichborn) 2021.