Lidija liest Leben – 17 Jahre Tagebuch in 2 Stunden

Es gibt keine Emotion, die wir nicht mit ihm teilen, und: Es gibt kein Geheimnis, das wir ihm verschweigen. Wir lachen, weinen und sprechen mit oder zu ihm und wenn er unseren Herzschmerz vor dem Schlafen abgenommen hat, legen wir ihn unter unser Kopfkissen und träumen mit ihm. 1990, im Alter von 7 Jahren, beginnt Lidija Burčak ihrem Tagebuch ihre Erlebnisse zu erzählen. Rund 30 Jahre später teilt Burčak ebendiese Erlebnisse im Rahmen ihrer Lesung an Zürich liest mit der Öffentlichkeit. 

Dienstagabend im Kreis 5, kurz bevor Stunden- und Minutenzeiger einen Winkel von 120 Grad einschliessen – das heisst kurz vor 20.00 Uhr – ist die Zürcher Bar Gleis bis auf den letzten Platz gefüllt. Trotz der winterlichen Kälte draussen herrscht karibisches Klima in der Bar, und das nicht wegen der Klimaanlage, sondern wegen den Menschen, die hier sind. Es wird gelacht, getrunken, geplaudert und gespannt auf Lidija Burčak gewartet, die aus ihren Tagebüchern vorlesen wird, die neben einer niedlichen Tischlampe auf einem zierlichen Tisch zu einem eindrücklichen Turm gestapelt sind. 

Pünktlich setzt sich Burčak an ebendiesen Tisch mit der – es muss gesagt werden – niedlichen Tischlampe, macht einen kurzen Soundcheck und lächelt in die Runde, während sie dem eindrücklichen Bücherturm das erste Tagebuch entnimmt. 

Burčaks Tagebuchlebensgeschichte setzt im Jahr 1990 an und beginnt mit einem Mädchen, das bereits im Kindesalter wusste, was sie möchte – wie soll es auch anders sein. Ihre Lebenskraft, so schrieb sie damals in ihr Tagebuch, schöpfte sie aus der Hoffnung auf «spätere Freiheit». Dem Wunsch der Eltern, sich dem Basketball zu widmen, ging sie bis heute nicht nach. Bereits damals stand für sie fest, dass es etwas Künstlerisches sein soll: «Ich weiss genau, dass ich eines Tages auf der Bühne stehen oder vor der Kamera spielen oder sogar singen werde, ja das ist mein Traum», liest Burčak vor, die heute als Filmschaffende und Autorin tätig ist. Das Publikum schmunzelt. Dieses Prozedere wiederholt sich im Verlauf der Lesung unzählige Male. Burčak liest vor, das Publikum lächelt, grinst, schmunzelt oder kichert, weil sie, so der Anschein, Burčak persönlich kennen oder sich in Burčaks Tagebucheinträgen wiedererkennen.  

Es folgt ein Zeitsprung ins Jahr 2000. Burčak erzählt von ihrer ersten flüchtigen Liebe als junge Erwachsene und den ersten Existenzängsten während der Ausbildung als Kauffrau. Danach geht es um ihr erstes Mal im Jahr 2001. Trotz der Tatsache, dass Burčak aus ihrem Tagebuch vorliest und die ganze Lesung nicht zuletzt deshalb eine sehr intime Note bekommt, kippt das Erzählte nie ins Vulgäre. Im Gegenteil: Man ist peinlich berührt, erkennt sich selbst auf eine gewisse Art und Weise wieder, schaut links und rechts die Sitznachbar:innen an, zuckt die Schulter und nickt bestätigend dazu den Kopf. Wir kennen es nur zu gut: das Gefühl der Ratlosigkeit, Überforderung und Unsicherheit, gespickt mit einer grossen Menge Nervenkitzel. 

Über die Frage, «Was wett ich i mim Läbe als Lebensmittelpunkt ha?», zerbricht sich die 22-jährige Burčak den Kopf. Die ersten Ausgangserfahrungen sind gesammelt, der Kopf reifer, dennoch scheint es unbegreiflich für sie, wie gewisse Menschen in der Lage sind, eine Liebe für Aristoteles zu entwickeln. Ist schlussendlich auch irgendwie egal, und ja: auch hier erkennt sich der eine oder die andere wieder. Ganz pragmatisch schreibt sie in ihr Tagebuch – jetzt in Mundart: «Ich bin halt keis Genie, isch d’Missy Elliot aber au nöd, trotzdem het sie Millione», und lässt das Publikum erneut in Lachen ausbrechen, weil die Aussage mit Blick auf die damalige Zeit total amüsant ist und dem Aristoteles-Seitenhieb gleichzeitig den Wind aus den Segeln nimmt. 

Im Todesjahr von Michael Jackson war Burčak bei einer Radiostation angestellt und erzählt, dass sie einen Michael-Jackson-Beitrag abbrechen musste, weil es im «verfiggte Toggeburg brennt het». Auch hier kann sich niemand das Lachen verkneifen, weil Burčaks Erlebnisse – jetzt wo das Tagebuch wie gesagt in Mundart geschrieben ist und sich die Sprache mittlerweile mit mehr Kraftausdrücken schmückt – umso nahbarer wirkt. Plötzlich aber geht es um die Erfahrung von Rassismus und die Frage, weshalb engstirnige Schweizer:innen den Namen Burčak nicht richtig aussprechen können oder wollen, und um die Frage, wie Secondos und Secondas mit ihren Wurzeln umgehen sollen. Ausreissen? Verleugnen? Freien Lauf lassen? «Die göhnd mer alli uf de Sack», ertönt es von der Bühne, und für einen Moment ist man sich nicht mehr so sicher, ob die Aussage nicht improvisiert war. Aber auch hier scheinen sich alle einig zu sein: Diese Aussage passt! Ganz gleichgültig, ob sie vor zehn Jahren oder heute gemacht wurde. 

Gegen Schluss der Lesung führt Burčak die Zuhörer*innen auf eine Metaebene, indem sie vorliest, was ihr das Tagebuchschreiben eigentlich bringt. Sie habe sich damals selber erklärt, dass es sie sowohl charakterlich als auch im Hinblick auf das Leben bestärkt habe, ihrem Tagebuch persönliche Gedanken anvertrauen zu können. Dadurch habe sie realisiert, wie vergänglich Probleme sind und wie wichtig es sei, die eigenen Gedanken regelmässig zu reflektieren.

Rückblickend kann man sagen, dass am Eröffnungstag von Zürich liest mit Lidija liest Leben eine überaus amüsante, packende und emotionale Lesung im vollgefüllten Zürcher Gleis stattfand. Mit ihren Tagebucheinträgen liess Burčak das Publikum an ihre tiefsten Gedanken und Gefühle aus einer Zeitspanne von rund drei Jahrzehnten heran und illustrierte, ganz ohne Kitsch, dass wir als Menschen letzten Endes mehr Gemeinsamkeiten als Divergenzen haben.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert