Wen wir erinnern

Der heutige Donnerstagabend ist Lou Andreas-Salomé gewidmet. Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea will Andreas-Salomé, die lange zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist, wieder in unsere Erinnerung rufen: «Eine Feministin erster Stunde», deren Werk auch heute erstaunlich aktuell scheint. In Grigorceas Verlag telegramme wurden «Fenitschka» und «Das Haus», ein weiteres Werk Andreas-Salomés, neu aufgelegt.

Schriftstellerin und Verlegerin Dana Grigorcea bei der Begrüssung zur Lesung im Modissa

Das Kleidergeschäft Modissa scheint für die Lesung auf den ersten Blick eher unpassend: Stuhlreihen stehen zwischen Kleiderstangen und ganz vorne die kleine Lesebühne. Nach dem ersten Eingewöhnen frage ich mich aber: Warum eigentlich nicht? Die Kollekte und der Ort dürften ein anderes Publikum ansprechen als in der Buchwelt üblich. 

Im Mittelpunkt von «Fenitschka» steht die junge Frau Fenia, die so gar nicht in das konventionelle Frauenbild des fin de siècle reinpasst. Warum? Weil Fenia studiert und mit Männern Freundschaften unterhält. Die Parallelen zur Biographie Andreas-Salomés sind deutlich: Als eine der ersten Studentinnen Europas besuchte Lou Andreas-Salomé im Jahr 1880 Philosophie- und Theologie-Vorlesungen an der Universität Zürich. Nachem sie ihr Studium aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste, zog sie nach Berlin und bereiste von dort aus Europa. Nun bewegte sich die Russin in den intellektuellen Kreisen von Wien, Paris und München und begann zu schreiben. «Fenitschka» wurde schliesslich 1898 veröffentlicht. Zu ihrem literarischen Freundeskreis zählen u. a. Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Rainer Maria Rilke befreundet. Leider wurde und wird die Schriftstellerin zu oft auf ihren Ruf als Muse der beiden reduziert. Dass sie selber schrieb, bleibt dabei oft unerwähnt. Auch darum finde ich diese heutige Lesung so schön!

Lou Andrea-Salomé hat das Zepter in der Hand:
Sie, Paul Rée und Friedrich Nietzsche 1882, © Jules Bonnet

Über eine Stunde lesen Ariela und Thomas Sarbacher aus der Novelle vor. Als Schauspieler:innen lesen sie so packend und stimmungsvoll, dass es die Zuhörer:innen in die Welt von «Fenitschka» eintauchen lässt. Besonders elegant: Nach einem Niesen im Publikum wünscht Sarbacher sogar mitten im Satz Gesundheit.

Ein weiteres wichtiges Thema des Buches sind die Unterschiede zwischen Frau und Mann. Besonders auffällig dabei ist, wie wenig Andreas-Salomé ihre Hauptfigur sprechen lässt: Fenia, die Protagonistin, lernen wir aus der Perspektive des Protagonisten Max kennen. Das männliche Subjekt untersucht also das weibliche Objekt. So liest Thomas Sarbacher auch deutlich länger und mehr vor. Umso stärker sind daher die Brüche, die entstehen, wenn Fenia durch Ariela Sarbacher zu Wort kommt.

Ariela und Thomas Sarbacher lesen aus «Fenitschka»

Etwas abrupt endet schliesslich die Lesung vor dem letzten Buchdrittel. Viele Zuhörer:innen dürften das Buch nun (nochmals) zu Ende lesen wollen. Wir wurden eingeladen, uns zu erinnern übers Vorlesen und danach: weiterzulesen! Zum Schluss erhalte ich die lang ersehnte Möglichkeit, «Fenitschka» endlich in einer schönen Ausgabe mit Nachhause zu nehmen, wo es nun stolz im Regal steht. Jetzt bleibt mir Lou Andreas-Salomé auch in ästhetischer Gestalt in Erinnerung.

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