Entgrenzende Wortkunst mit Eva Maria Leuenberger

Das kann auch nur in dieser besonderen Zeit passieren: Ich gehe mit meiner Maske vorm Gesicht und einem Aperitif in der Hand zur Lesung im Erkerzimmer im Zentrum Karl, nehme Platz – als meine Sitznachbarin aufsteht und sich als Autorin des Lyrikbandes dekarnation entpuppt, aus dem heute Abend gelesen wird. Ohne ihre rote Mähne vom Buchcover und mit Maske hatte ich Eva Maria Leuenberger gar nicht erkannt.

Auch die ersten Worte des Abends gelten diesen besonderen Umständen, indem sich die Organisatorin des St. Galler Literaturfestivals «Wortlaut» herzlichst bei «Zürich liest» bedankt. Eva Maria Leuenbergers Lesung ist eine von zwei Veranstaltungen, die nach der abgesagten Frühlingssaison im Rahmen des Zürcher Literaturfestivals doch noch ihren Weg auf die Bühne finden.

Der Abend beginnt so zugänglich und entspannt, wie er begonnen hat. Ohne Mikrofon liest die junge Lyrikerin in intimem Rahmen abwechselnd zwei Teile aus ihrem Erstlingswerk vor und äussert sich im Gespräch mit Gallus Frei-Tomic zu ihrer Wortkunst. Ihre klare, ruhige Stimme entblösst eine stimmungsvolle Szenerie im Wald, zuerst im Tal, dann in der Schlucht, die so verletzlich wie erbarmungslos daherkommt. Trotz der zahlreichen Naturmotive grenzt sich Eva Maria von der klassischen Landschaftslyrik und der ihr inhärenten Distanz ab. Im Gegenteil: es geht ihr gerade um den direkten Kontakt von Körper und Umgebung.

Schicht um Schicht trägt ihre Lyrik vom Vorhandenen ab, gräbt immer tiefer, nach einem Sinn, einem Kern. Diese Suche trägt die Künstlerin immer weiter, sodass ihre Gedichte gleichzeitig auch als ein Gesamtkunstwerk zu lesen sind, welches im Grunde die Grenze der Lyrik zum Romanhaften sprengt. Immer wiederkehrende Motive verdichten sich und entgrenzen gleichzeitig ihren Sinn in unterschiedliche Richtungen. Das Ich im ersten Teil wird im dritten zu einem Du, welches sich in seiner Umgebung gespiegelt wiederfindet.

Ihr Gesprächspartner zeigt uns Zuhörenden, wie diese Ausdehnung der lyrischen Instanz auch graphisch abgebildet ist, indem sich die anfänglichen Blocksätze je länger je mehr in Wortfetzen über die Seite bewegen. Die Stille, die Störungen zwischen den Wörtern sind der Lyrikerin genauso wichtig wie das Wort selbst, meint sie. Gleichzeitig ist es ein multivokales Werk, in dem sich die englischsprachigen Stimmen unterschiedlichster Dichterinnen wie Beth Bachmann und Christina Davis mit ihrer Lyrik verbinden, sich gegenseitig umtänzeln, ergänzen und hinterfragen.

Als ich den Karl der Grosse verlasse, lächle ich mit Blick auf die Hausfassade, an der der Name gerade so passend mit «Karla die Grosse» überschrieben wurde. Heute war ein Abend der weiblichen Ausdruckskraft.

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