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«Die Intensität von Literatur ist, dass man einen Satz lesen muss.»

«Von Schlechten Eltern» von Tom Kummer wurde für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2019 und den Schweizer Buchpreis 2020 nominiert. Anfang November feiert es Premiere auf der Bühne des Stadttheater Bern. Im Gespräch erzählt der Schriftsteller von der Grenzwanderung im Schreiben, seiner Beschäftigung mit ‹Männlichkeit› und wieso die Wahrheit der Literatur nicht im Authentischen liegt.

Von Redaktion
27. September 2021

Tom Kummer, viele Autor:innen scheuen sich davor, Privates preiszugeben. Sie hingegen erwähnen in Ihrem neusten Roman, Von schlechten Eltern, sogar Ihre richtige Adresse. Was für eine Motivation steckt dahinter?

Für mich kommt das ganz natürlich. Werk und Autor lassen sich nicht trennen. Das Genre, das ich mit Nina und Tom und Von schlechten Eltern bediene, gilt allgemein als Autofiktion – eine Mischung aus Fiktion und Autobiographischem. Dabei habe ich den Anspruch Fakten präzise wiederzugeben, weil ich mich dadurch leichter in einen fantastischen Realismus einschreiben kann. Leser:innen sollen mit der Figur ‹Tom› ein Verhältnis auf dem Boden der Realität aufbauen. Und dann mit mir abheben. Dabei ist zu erwähnen, dass ‹Tom Kummer› vor dem Hintergrund seiner journalistischen Vergangenheit schon vor langer Zeit eine Person des öffentlichen Lebens geworden ist. Ein oberflächliches öffentliches Image ist entstanden. Damit lässt sich spielen. Ausserdem ist es eine interessante Herausforderung über sich selbst zu schreiben. Man kann sich nicht verstecken. Wenn ich bspw. wie in Nina und Tom Sexszenen beschreibe, muss ich mich damit konfrontieren, dass ich zwar Literatur, sprich Fiktion erschaffe, gleichzeitig aber meine Person ganz nach vorne hänge. Das ist eine Herausforderung, die mich animiert.

Es ist interessant, dass Sie gerade die Sexszenen erwähnen. Karl Ove Knausgård, der vor ein paar Jahren mit seinem autofiktionalen Projekt sehr viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist bis hin zur Einkaufsliste einer realistischen Detailtreue verpflichtet, doch Sex kommt darin nicht vor. Für Sie scheint das hingegen kein Tabu zu sein.

Sex gehört zum Leben, und bescherte mir mit Nina immer wieder wunderschöne Grenzerfahrungen. Sex in Literatur zu verwandeln ist dagegen eine ziemliche Herausforderung. Sehr schnell kann man dem Kitsch verfallen und sich der Lächerlichkeit preisgeben. Das gilt auch für Trauer- und Sterbemomente. Aber genau das, Grenzen auszutesten, ist die schöne Herausforderung beim Schreiben. Wie weit kann ich mit Sprache gehen? Als junger Autor ging es mir immer darum, Formen zu sprengen, das ‹Anything Goes› des Punk zu praktizieren. Gattungserwartungen zu unterwandern. Leser:innen mit einer Form zu konfrontieren, die herausfordernd ist.

Zum Autor

Tom Kummer, geboren 1961 im Berner Länggassquartier, zog 1985 nach Westberlin und wurde dort von Hans Magnus Enzensberger entdeckt, für dessen Transatlantik-Magazin er erste Kurzgeschichten verfasste. 1987 nahm er eine Journalistenkarriere beim Tempo auf; ab 1993 arbeitete Kummer als fest-freier Autor in Los Angeles für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und das Magazin des Zürcher Tagesanzeigers. 1994 wurde er für eine Geschichte über den Schriftsteller Richard Ford für den Joseph-Roth-Preis nominiert. Seine inszenierten Interviews mit Hollywood-Stars lösten 2000 einen Medienskandal aus, der 2009 im Dokumentarfilm Bad Boy Kummer - basierend auf Kummers Autobiografie «Blow Up» - aufgearbeitet wurde. 2017 erschien sein Roman «Nina & Tom», mit dem Kummer seiner 2014 verstorbenen Frau ein Denkmal setzte. 2016 kehrte er - nach knapp 25 Jahren Los Angeles - wieder nach Bern zurück. Für seinen letzten Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde Kummer für den Ingeborg-Bachmann-Preis (2019) und den Schweizer Buchpreis nominiert (2020).
Foto: © Thilo Larsson

Die fantastischen Szenen in Von schlechten Eltern müssen also durch die realistischen, faktisch verbürgten Szenen ergänzt werden, damit sie nicht zu Kitsch werden?

Das Fantastische soll authentisch bleiben. Ich probiere da viel aus bis es funktioniert. Die Erwartungen an eine aufregende Dramaturgie sind extrem gestiegen – natürlich auch wegen dem Serien-Eldorado auf Netflix, wo uns Filme mit immer absurderen Plots vorgesetzt werden. Von schlechten Eltern ist ganz klar nicht vom Plot getrieben, sondern vom sprachlichen Sog, den ich als eine Art Meditation verstehe. Es geht mir darum, eine tiefere Wahrheit der Trauer zu vermitteln. Ich versuche dabei Leser:innen dazu zu verführen, mich ins Jenseits zu begleiten. Es gibt eine tiefere literarische Wahrheit, die erst durch den Balance-Akt zwischen Realität, Fantastischem und sprachlicher Meditation vermittelbar ist. Der Anspruch, alles sei nur dann wahr, wenn es authentisch ist, wird masslos überschätzt. In der Kunst und in der Literatur werden Bilder komponiert, mit denen eine spezifische Stimmung erzeugt werden soll. Nur so lässt sich eine tiefere Wahrheit herstellen, von der wir sehr viel mehr lernen als von reiner Authentizität.

In Ihren beiden Romanen wird den zwei Söhnen alles gesagt und zugemutet: weder Sterben, Tod noch Trauer sind tabuisierte Themen zwischen Eltern und Kindern. Sind Ihre Bücher – oder allgemeiner – literarische Bücher die wahrhaft «guten Eltern»?

Das ironische Spiel mit dem Titel Von schlechten Eltern ist ja, dass das Buch eigentlich das Gegenteil davon belegt. Obwohl die Eltern in Nina & Tom ein äusserst exzessives und auch selbstzerstörerisches Leben führen, erscheinen unsere Kinder als glücklich und zufrieden. Für mich war immer entscheidend, Bücher zu schreiben, die ich meinen Söhnen problemlos zeigen kann. Der 12-Jährige las vielleicht Nina und Tom noch nicht, aber der Ältere fand das Buch nie peinlich, weil meine Söhne erkennen, dass ich zwar ihr Vater bin, der sich auch mal heftig mit der Mutter streitet. Und doch siegt am Ende die Liebe, der Zusammenhang, die Solidarität. Als alleinerziehender Vater und Schriftsteller gebe ich alles für unsere Jungs. Wir essen zusammen, ich koche für sie, mache die Wäsche, wir spielen zusammen. Aber sie sehen eben auch den anderen Vater, der stundenlang am Schreibtisch sitzt und Texte produziert, Literat ist. Statt dass er in der Schreinerei arbeitet, ist er zuhause und baut ein Kunstwerk. Sie haben verstanden, dass Literatur harte Arbeit ist und Texte das Resultat einer geduldigen Konstruktion sind. Und sie wissen auch, was es mir bedeutet und dass sie mich nicht stören sollten, wenn ich schreibe. Davor haben sie Respekt.

Literatur ist für mich die höchste Form, um den Menschen eine Erfahrung zu ermöglichen, die sie in keiner anderen Weise machen können. Die Intensität von Literatur ist, dass man einen Satz lesen muss. Ganz anders als Bilder anschauen. Man kennt das ja: Man liest einen Abschnitt halb schlafend und denkt, man muss nochmals zurückgehen, weil man den Satz gar nicht verstanden hat. Deshalb behaupte ich, dass die wirklich tiefen, existenzialistischen Themen, die mich interessieren – in Nina und Tom sind es das Sterben und die grosse Liebe, in Von schlechten Eltern die Trauer und die Hoffnung –, dass man diese Themen am besten in der Literatur angehen kann. Im Übrigen ist Melancholie eine ziemlich starke Kraft und für Tom ein Weg, seine Sensibilität zu geniessen. Die Trauer wird dann zu eine Art Medizin, eine Lebensqualität.

In ihrem Roman entwerfen Sie ein ambivalentes Bild der Schweiz: Einerseits zeichnen Sie ein Paradies in imposanten, ästhetischen Naturbildern, andererseits ist es auch eine melancholische, dunkle Schweiz, die Tom nur nachts erträgt und in der die Nachbar:innen bedrohlich wirken. Sie selbst haben 30 Jahre im Ausland gelebt – hat sich Ihr Blick auf die Schweiz verändert, seit Sie wieder hier wohnen?

Es ist ja nicht so, dass ich 30 Jahre lang völlig weg war; ich war immer wieder in den Ferien da und habe die Schweiz durchaus im Blick behalten. Aber seit 2016 lebe ich nun wieder hier in der Schweiz, entdecke sie neu und habe in ihr eine interessante Kulisse für gewisse Geschichten entdeckt. Ich habe sofort meine Faszination für das Land entdeckt, besonders für die Natur. Von schlechten Eltern spielt fast ausschliesslich in der Nacht, was mir erlaubte, meine Entfremdung gegenüber dem Land literarisch Ausdruck zu verleihen. In diesem Roman kann ich die Schweiz am Tag nicht wirklich ertragen, die Schweizer Realität schmerzt, was natürlich als Metapher zu lesen ist. Auf der anderen Seite kommen darin ja auch kaum Schweizer:innen vor.

Die Nacht lässt mir mehr Freiheiten, fantastische Bilder von der Schweiz und dem Trauma Trauer zu entwerfen. Die Nacht hat wiederum den Effekt, dass die Leser:innen eher bereit sind, mir in eine fantastisch-realistische Welt zu folgen. So unternimmt dieser ‹Tom› bspw. nachts den Versuch, mit der verstorbenen Nina Kontakt aufzunehmen. Derart kann man das Buch als die Geschichte eines verzweifelten, traumatisierten Mannes akzeptieren und nimmt es nicht für bare Münze, dass Nina tatsächlich auf der Windschutzscheibe erscheint. Das ist der Punkt: Literatur lässt das zu.

Von schlechten Eltern ist auch ein Buch über Männlichkeit und Vaterschaft. «Bin ich noch ein Mann», fragt der Ich-Erzähler darin. Was für ein Mann ist Tom?

Als Mann über Männlichkeit zu sprechen ist schon fast ein Tabu geworden. Gerade langsam ergrauende Männer, so von 60 an aufwärts, sollten sich über die überholten Selbstverständlichkeiten bewusst sein. Trotzdem will ich mich mit Männlichkeit auseinandersetzen dürfen. Zum Beispiel welche Männlichkeitsbilder mich als Teenager bewegt haben. Beim Limousinenfahrer Tom in Von schlechten Eltern habe ich natürlich an Martin Scorseses Film Taxi Driver gedacht, der 1976 einen grossen Einfluss auf mich hatte. Robert De Niro spielt den Taxifahrer und Vietnamheimkehrer Travis Bickle, der ein posttraumatisches Syndrom hat. Dieser Travis vermittelt zwar ein machoides, aber eben auch gebrochenes Männerideal. Für mich ist klar: Dieser Taxi Driver ist kein Dirty Harry, kein Clint Eastwood-Typ, sondern ein Mann, der weiss, dass Männlichkeit Schaden anrichtet. Mich haben diese ambivalenten Männerbilder immer interessiert. Wie zum Beispiel die amerikanischen Kriegsrückkehrer im ‹film noir› der 50-er Jahre herumtorkeln und ihren Platz in der Gesellschaft nicht mehr finden können. Männerbilder, die Stärke vorspielen, aber zerbrechlich sind. Letztendlich geht es ja immer um Identitätsfindung. Das gilt für jede Generation. Für Frauen und Männer.

Und was für ein Vater ist Tom?

Das Vaterbild in Von schlechten Eltern lässt sich z. B. anhand der Szene veranschaulichen, in der ich die zärtliche Annäherung an meinen Sohn beschreibe. Eine schwierige Szene, weil wir beide nackt im Bett liegen. Typisch für die Autofiktion. Die Szene ist verdichtet und doch authentisch. Eine Szene die aufrütteln soll und das Trauma von ‹Tom› frühzeitig definiert: Es manövriert die Leser:innen in eine Situation, in der sie sich fragen müssen, ob das jetzt zu viel ist. Ob sie diesem ‹Tom› noch folgen wollen. Das Bild muss sehr präzise bearbeitet sein. Ein falsches Wort, und die Stimmung hängt schief. Einerseits zeigt es die Verzweiflung des Vaters, andererseits das Bedürfnis, mit seiner Frau, Nina, der Mutter dieses Kindes, Kontakt aufnehmen. Der offene Umgang mit Körperlichkeit ist mir wichtig, was absolut nichts mit Sexualität zu tun hat. Sondern mit Vaterliebe.

Auf Ihrem Twitter Account heisst es «New book in the making». An was für einem Buch arbeiten Sie gerade?

Es ist der dritte und letzte Teil meiner Trilogie rund um die Liebe zu Nina. Die Geschichte spielt im Sommer 1997 als wir zum ersten Mal darüber nachdenken, den Egoismus und das exzentrische Leben ein bisschen herunterzufahren, vielleicht eine Familie zu gründen, nebenbei uns das Rauchen und die harten Drogen abzugewöhnen, endlich gesunder und nachhaltiger zu leben. Aber Nina ist unsicher was sie will. Sie ist 32 und fordert Bedenkzeit. Sie fliegt in die Schweiz und trifft am Bielersee auf ihre alten Freundinnen. Gemeinsam wollen sie über ein langes Wochenende das Leben abfeiern – und Nina davon abhalten, wieder zu Tom nach Los Angeles zurückzukehren. Das Buch ist vielleicht meine letzte Chance um nochmals in Ninas Herz, Seele und Körper einzutauchen. Nina hat mich als postfeministische Frau geprägt und zu dem Mann gemacht hat, der ich heute bin. Als Dank habe ich ihr bereits zwei Bücher gewidmet. Jetzt also noch ein drittes. Gegen ihren Willen.

Eine letzte Frage: Sie haben einen Instagram- und ein Facebook-Account und sind auf Twitter. Sind soziale Medien wichtig für Sie als Schriftsteller?

Ich hatte das Vergnügen vor zwei Jahren eine Lesung mit dem Autor T. C. Boyle zu moderieren und da hat er mir erzählt, dass sein Verlag ihn quasi gezwungen hat, auf Twitter jeden Tag etwas zu posten, weil das alle Autor:innen machen müssten. Er hat gedacht, die spinnen, hat es dann aber trotzdem getan und so dadaistische Sachen gepostet wie sein Frühstücksei.

Ich bin da sehr gespalten: Einerseits gibt es Autor:innen, die haben der Welt immer etwas zu erzählen und zu allem eine Meinung. Das ist ja wunderbar, aber ich habe dieses Bedürfnis nicht. Schliesslich kann man meine politische Haltung zwischen den Zeilen meiner Texte nachlesen. Trotzdem sind Soziale Medien wichtig um bei Gelegenheit auch mal Werbung für sich oder eine gute Sache zu betreiben. Jede:r Künstler:in ist zwangsläufig aufgefordert, sich um das eigene öffentliche Bild zu kümmern. Das ist zwar anstrengend und zeitaufwändig. Aber auch wichtig. Ich poste vielleicht zweimal pro Woche ein Bild und ein Kommentar. Wenn es für mich passt. Ich zwinge mich nicht. Ich habe inzwischen ein gutes Gespür dafür, welches Bild und welches Lebensgefühl ich mit meiner virtuellen Community teilen will. Wie man jedoch zu 10 000 oder zu 10 Millionen Followern kommt, das müssen Sie Kim Kardashian fragen.

Das Gespräch führte Sabine Cassani.