KW13

«Die Schweiz ertrage ich nur bei Nacht»

«Nina und Tom» war auf unserer Bestenliste 2017 gelandet. Aber was kommt danach? Tom Kummer war gerade in Zürich und hatte Zeit. Wir auch.

Von Christoph Steier

Bellevue – Tina Bar

Auf dem Weg vom Zürcher Bellevue zur Tina Bar wird Tom Kummer ein paar Mal erkannt. Oder zumindest verstohlen gemustert. Trotz Brecht-Mütze dämmert da etwas, bevorzugt in den Gesichtern mittelalter Afterworker, die ihre Tempo- und Spex-Abos nicht erst gestern gegen Financial Times und Landliebe eingetauscht haben. Bad Boy Kummer trägt immer noch Docs statt Geox und war mal ein Star. Das ist so lange her wie die Blütezeit der Printmagazine in den Neunzigern, aber nicht ganz so vorbei.

Vorbei sein sollte es allerdings für diesen Abend. Mit Kummer, so die Idee, wollten wir nur über das reden, was kommt. Neue Buchpläne. Frische Blicke auf die Schweiz. Musikalische Früherziehung, Kunstprojekte, Tennistraining, Youtube. Whatever, Hauptsache nach vorn. Unser Vorsatz hält bis zum Hechtplatz. Auf der Suche nach gemeinsamen Bekannten sind wir auf Richard Ford gekommen. Wir haben ihn gelesen. Kummer hat ihn getroffen, in den Neunzigern. Gerade warmgeredet, fällt sich Kummer zwischen New Orleans- und Squash-Anekdoten plötzlich selbst ins Wort. «Also kein Scheiss jetzt, das Gespräch hat es wirklich gegeben.»

Da sind sie wieder, die alten Geschichten vom Interviewfälscher Kummer, die ihm seit Ende der Neunziger nachlaufen wie die herrenlosen Hunde an den Highways von L.A. Vom immer tollkühner fabulierenden Superstarflüsterer, der mit Mike Tyson über Philosophie und mit Charles Bronson über Orchideen geplaudert haben wollte. Brillant, aber eben brillant erfunden. Abgekauft haben es ihm alle, ironisch zwinkernd vielleicht, gierig auf jeden Fall. Was ganz gut in jene kurze Spanne vor der Jahrtausendwende passte, als Pop nicht nur endlich gewonnen hatte, sondern richtig Geld abwarf. Das wiederum ironisch zwinkernd vielleicht, gierig auf jeden Fall ins Trockene gebracht werden wollte.

Los Angeles – Bern

Das ist ebenso vorbei wie Kummers Zeit in L.A. Über die man sich in seinen Büchern Blow Up und Nina & Tom ein Bild verschaffen kann. Kummers Bild. Das seit jeher ein merkwürdig scharfes und zugleich weichgezeichnetes ist. So war, zur Erinnerung, Nina & Tom nicht nur Kummers erster genuin literarischer Triumph, der von den rasch nachgewiesenen freundlichen Übernahmen fremder Rede eher noch gestärkt denn infrage gestellt wurde – präsentierte sich der Roman doch trotz dieser Einbauten als stilistisch homogener, wuchtiger Wurf. Gleichwohl wollte dieser zupackende, das Drastische nicht scheuende Stil an keiner Stelle verbergen, dass dort einer Trauerarbeit leistet. Während es medial wieder einmal interessanter war, Kummer wieder einmal beim unsauberen Zitieren ertappt zu haben.

Zum Autor

Tom Kummer, geboren 1961 im Berner Länggassquartier, zog 1985 nach Westberlin und wurde dort von Hans Magnus Enzensberger entdeckt, für dessen Transatlantik-Magazin er erste Kurzgeschichten verfasste. 1987 nahm er eine Journalistenkarriere beim Tempo auf; ab 1993 arbeitete Kummer als fest-freier Autor in Los Angeles für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und das Magazin des Zürcher Tagesanzeigers. 1994 wurde er für eine Geschichte über den Schriftsteller Richard Ford für den Joseph-Roth-Preis nominiert. Seine inszenierten Interviews mit Hollywood-Stars lösten 2000 einen Medienskandal aus, der 2009 im Dokumentarfilm Bad Boy Kummer - basierend auf Kummers Autobiografie «Blow Up» - aufgearbeitet wurde. 2017 erschien sein Roman «Nina & Tom», mit dem Kummer seiner 2014 verstorbenen Frau ein Denkmal setzte. 2016 kehrte er - nach knapp 25 Jahren Los Angeles - wieder nach Bern zurück. Für seinen letzten Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde Kummer für den Ingeborg-Bachmann-Preis (2019) und den Schweizer Buchpreis nominiert (2020).
Foto: © Thilo Larsson

Kummer mag der Alte geblieben sein, sein Leben war und ist es nicht: Nina ist tot, Kummer zurück in der Schweiz. Der ältere Sohn noch in L.A., der jüngere bei ihm in Bern. Wo Kummer nach dem Einschlafritual wieder in die Kleider schlüpft und seinen Nachtdienst antritt. Nicht am Schreibtisch, sondern im Fahrdienst für ranghohe Gäste zwischen Bern und Genf. Der Job störe ihn nicht, meint Kummer, auch die Zeiten nicht. Genau genommen ertrage er die Schweiz nur bei Nacht, wo nicht alles ganz so klar und nach Vorschrift laufe wie am Tag. Klingt romantisch und passt sowohl zu Kummers Verehrung für Scorseses Taxi Driver als auch zu seinem ersten Impuls, sich nach dem aufgeflogenen Interviewschwindel als Truckfahrer auf amerikanischen Highways zu verdingen. Aber ganz so einfach ist es nicht, mehrfach wird sich Kummer an diesem Abend als Traumatisierten beschreiben. Ein, möchte man ergänzen, ästhetisch und biographisch gleich doppelt Verwitweter, ist doch die Zeit, in der einer am Küchentisch mit Hilfe von Koch- und Gartenbüchern interessantere Versionen von Superstars zusammenbasteln konnte, ebenso unwiederbringlich vorbei wie das allzu kurze, aber intensive Leben der betrauerten Frau.

Intensität und Basteln

Intensität und Basteln sind zwei gute Stichworte, um Kummer näherzukommen. Intensiv ist an diesem Zürcher Frühlingsabend aber zunächst die Rauchdecke, die uns in der Tina Bar empfängt. Kummer raucht schon länger nicht mehr, was jeder verstehen wird, der seinen Nikotinnachruf auf den früh verstorbenen Vater kennt. Aber Kummer scheint ein Mensch zu sein, der Szenen nicht von aussen anschaut, sondern als Atmosphäre wahrnehmen will. Also Zigaretten holen. Und irgendwann im Laufe des Gesprächs verstehen, was Kummer von seinen publizistischen Generationsgenossen unterscheidet. Nicht von jenen, deren Revierkämpfe und Diskurshoheiten im heimischen Feld er eher irritiert kommentiert. Dass er, vom Blick unlängst mal wieder als «Fake-Journalist» und Pseudokünstler verunglimpft, den grossen Namen der Schweizer Literatur schwerlich mit Poser-Vorwürfen kommen kann, scheint ihn ein wenig zu wurmen. Aber es dauert nur einen kurzen Moment, ehe der Anflug von Häme in die Gewissheit übergeht, dass unter diesen Auspizien auf jeden Fall noch ein Platz für einen wie ihn drinliegen müsste. Worüber die nächsten Bücher entscheiden werden.

An diesem Abend lässt sich nur erkennen, dass weder Häme noch helvetische Betriebsbefindlichkeiten Kummers Naturell entsprechen. Und dass es genau dieser Zug ist, der ihn von seinen publizistischen Generationsgenossen unterscheidet. Während einige der ehemaligen Kollegen aus dem Tempo-Umfeld ihren Marsch durch die Institutionen bis heute mit dem dünn getragenen Flor der «subversiven Affirmation» bemänteln und noch im Flieger zum Bentley-Test für die Weltwoche ungerührt von journalistischem Ethos schwafeln würden, interessiert sich Kummer weder für die frostige Narrenkappe der Ironie noch für die grossen (oder wenigstens gross vermarktbaren) Abgesänge auf die Popmoderne, in denen sich das Bedauern der eigenen ökonomischen und stilistischen Marginalisierung hinter bekenntnisseligen Suchtbeichten eher dürftig versteckt.

Kummer hingegen will weder bedauern noch dissen, sondern machen. Weitermachen, besser machen. Das dürfte in Teilen schon für seine Star-Interview-Erfindungen gegolten haben, die aus Phrasenmaschinen und Pin-ups interessante Spinner formten. Das gilt ganz sicher für seine literarischen Texte, die aus dem, was noch da, irgendwie verfügbar ist, ungeachtet seiner Herkunft etwas machen wollen, das bleibt. Und bestmöglich strahlt.

Poetische Lizenzen

Kummers Verfahren des Zusammensuchens und -bastelns kommt, wie an diesem Abend in unseren Streifzügen durch Popkontexte, Inszenierungspraktiken und nächste Projekte deutlich wird, letztlich ohne akademischen Überbau aus. Fancy Konzepte wie Sampling, Bricolage, Appropriation oder Intertextualität beschreiben zwar das Vorgehen, rücken es aber ungebührlich in den Vordergrund. Der Autodidakt, als den sich Kummer auch an diesem Abend stolz bezeichnet, will – Brecht-Mütze hin oder her – nicht literarische Techniken als solche kenntlich machen, sondern nutzen. Um aus dem, was da ist, das zu machen, was sein soll. Eine Welt, wie sie ihrem Autor gefällt. Kummer, der mit den Händen redet und jederzeit gelassen präsent ist, gefällt Intensität. Abgrenzung ist seine Sache nicht. Cool ist nicht, was der andere nicht oder nur vom Hörensagen kennt. Sondern das, womit er etwas anfangen kann, von wo aus man loslegen kann. Dass Kummer erst so spät bei der Literatur gelandet ist, die derlei Lizenzen seit jeher besitzt, mutet nachgerade wie ein Treppenwitz an. Mag sein, dass sich die Honorare im Journalismus erst auf Literatenniveau abkühlen mussten, um diese Entscheidung leichten Herzens zu treffen. Für die Literatur, zumal die Schweizer, so oder so ein Glücksfall. Denn dass Kummer, wie letztlich jede seiner für welches Medium auch immer verfassten Zeilen zeigt, nur mit dem arbeiten kann, was irgendwie da ist, aber noch nicht richtig gut, dürfte uns in den nächsten Jahren noch ausführlich beschäftigen: Erzählen kann Tom Kummer wie nur wenige in seiner Generation, das hat er leidlich bewiesen. Was also dabei herauskommt, wenn künftig statt der Autobahnhunde von L.A. die Berner Stadtfüchse, statt der Beachclubs von Malibu die Hamams der Migros und statt der kalifornischen Wüstennächte die wüsten Nächte vor der Berner Reithalle den Stoff liefern, wird zweifelsohne Rechenschaft ablegen von dem was, was irgendwie da ist, aber noch nicht richtig gut. Wir werden sehen.

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