KW15

Knallharter Weichzeichner

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Tom Kummers Trauerroman «Nina & Tom» zeigt viel und verrät wenig. Trauerarbeit und Pop-Poetik kommen sich dabei bemerkenswert in die Quere.

Von Christoph Steier
13. April 2017

Die Verbannung des Todes aus dem öffentlichen Raum gilt spätestens seit den Studien des französischen Historikers Philipp Ariès als bewährter kulturkritischer Topos: Früher, so der durchaus nostalgische Verdacht, habe der Tod noch zum Leben gehört, sei im Kreise der Lieben erwartet oder gar in Eigenregie orchestriert worden. Eine solche «ars moriendi» habe die auf Wachstum, Erwerb und Genuss fixierte Wohlstandsgesellschaft des 20. Jahrhunderts dann tabuisiert, die Sterbenden in die Entmündigung der Kliniken und die Trauernden in die sprachlose Einsamkeit verbannt.

Nun zeichnete sich das 20. Jahrhundert allerdings vor allem dadurch aus, dass es den Lebenden und den Sterbenden eine Vielzahl neuer Bühnen auch jenseits ihres unmittelbaren Lebensumfelds eröffnete. Massenmedial also sind die Sterbenden und die Toten präsenter denn je. Das Spektrum öffentlich dokumentierten Sterbens reicht von Papst Johannes Paul II. bis zu Wolfgang Herrndorf, von Susan Sontag bis zu Amy Winehouse, von Werner Herzogs Todeskandidaten-Porträts bis zum IS-Video. Gerade letzteres Beispiel, aber auch der alltägliche Voyeurismus der Yellow Press ruft in Erinnerung, dass diese Bühnen durchaus nicht immer freiwillig betreten werden.

Zum Autor

Tom Kummer, geboren 1961 im Berner Länggassquartier, zog 1985 nach Westberlin und wurde dort von Hans Magnus Enzensberger entdeckt, für dessen Transatlantik-Magazin er erste Kurzgeschichten verfasste. 1987 nahm er eine Journalistenkarriere beim Tempo auf; ab 1993 arbeitete Kummer als fest-freier Autor in Los Angeles für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und das Magazin des Zürcher Tagesanzeigers. 1994 wurde er für eine Geschichte über den Schriftsteller Richard Ford für den Joseph-Roth-Preis nominiert. Seine inszenierten Interviews mit Hollywood-Stars lösten 2000 einen Medienskandal aus, der 2009 im Dokumentarfilm Bad Boy Kummer - basierend auf Kummers Autobiografie «Blow Up» - aufgearbeitet wurde. 2017 erschien sein Roman «Nina & Tom», mit dem Kummer seiner 2014 verstorbenen Frau ein Denkmal setzte. 2016 kehrte er - nach knapp 25 Jahren Los Angeles - wieder nach Bern zurück. Für seinen letzten Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde Kummer für den Ingeborg-Bachmann-Preis (2019) und den Schweizer Buchpreis nominiert (2020).
Foto: © Thilo Larsson

In der Spannung zwischen befreiendem Tabubruch und vermarkteter Indiskretion steht auch Tom Kummers neuer Roman «Nina & Tom». Hatte der 1963 in Bern geborene «Bad Boy des Journalismus» vor einem Jahrzehnt in seinem Memoir «Blow up» und dem darauf folgenden Dokumentarfilm «Bad Boy Kummer» die Skandalgeschichte seiner legendären Fake-Interviews erzählt, geht es im neuen Buch um die gut 30 Jahre währende Beziehung zu seiner Frau Nina. Die von ihrem wenig erbaulichen Ende her erzählt wird: Nina, auch mit Ende vierzig noch ein knabenhaftes Geschöpf, liegt im Sterben. Darmkrebs, letztes Stadium, grosse Bühne: Sieben mal zehn Meter misst das Familienschlafzimmer in Los Angeles, die pubertierenden Söhne des Paares sind zu Zeugen des Siechtums erkoren. Das sich nicht auf Nachtwindeln, Speichelfäden, Röcheln und Morphiumgaben beschränkt, sondern durch sexuelle Regungen, angedeutete Übergriffe und gespenstische letzte Kostümierungen regelmässig ins Obszöne zu gleiten droht.

Was für Kinder?

«Ob scena» – was ausserhalb der Bühne bleiben sollte, findet sich von Kummer im betont nüchternen Protokollstil auf die Szene gezerrt. Das gilt sowohl für das mit deutlichem Appell für ein selbst gewähltes Sterbeumfeld geschilderte Leiden Ninas als auch für die klandestine Vorgeschichte der eher unwahrscheinlichen Kleinfamilie. Mit durchaus erhellendem Effekt, sieht sich das lesende Publikum in der gezielt provozierten Frage, ob «das» denn etwas für Kinder sei, doch gleich selbst ertappt: Wer Öffentlichkeit will, daran erinnern Kummers stets im Netz surfende Jungen, kann diese ohnehin nicht kontrollieren. Und wer umgekehrt einem solchen Angebot folgt, hängt mit drin. Womit Glanz und Elend der Kunstfigur Kummer, aber eben auch seiner zahlenden Kundschaft, klar umrissen wären.

Die Köder sind wie immer verlockend. «Wir sind Kinder der Hölle», dröhnt der Klappentext, und wie ein Rammstein-Clip kommen denn auch die ersten Rückblenden daher: Molotow-Cocktails filmender Videoanarchist lockt androgynes Szene-Mädchen von Barcelona nach West-Berlin, wo sich beide als exilierte Schweizer erkennen. Auf «Pop, Drogen und Sex» der frühen 1980er Jahre folgen die popkulturellen Avancen der «Generation Golf», die dem Erzähler schliesslich einen Job als Lifestyle-Reporter bei der dem subjektiven New Journalism verpflichteten Zeitschrift «Tempo» einbringen. Dieser führt ihn mit seiner egozentrischen, drogensüchtigen und tagelang herumstreuenden Muse Nina schliesslich nach Los Angeles. Schon die Schilderung der frühen, von hartem Sex, gegenseitigem Belauern und vager Kulturtätigkeit geprägten Berliner Jahre nimmt sich stilistisch gegenüber den offenbar «krass» intendierten Inhalten merkwürdig zahm aus: «Nina zieht mit Powerattitude durch Trödelläden» und «wir verbringen viel Zeit im Kopierladen am Ernst-Reuter-Platz» – seriously? Auch inhaltlich ruhigere Fahrwasser erreicht die Erzählung dann in Los Angeles, wo zwei Kinder geboren werden, der unterdessen aufgeflogene «Fälscher“ sich als Tennislehrer verdingt und zum gelegentlichen Joint eine warme Milch gekocht wird

Verklärung

Dass er selbst den ödesten Alltag – Nina verbringt jeden Tag mindestens vier Stunden im Auto, braucht teure Hautcremes, informiert sich im Netz, macht neuerdings Sport – im stilistisch wohldosierten Parlando an den Leser zu bringen weisst, ist nicht die geringste Leistung des Schriftstellers Tom Kummer. «Nina & Tom» ist ein im besten Sinne gefasstes Buch, dass auf völlig zurechnungsfähige Weise von zwei selbsterklärten Grenzgängern erzählt. Dass sich Sadomaso-Praktiken, Verkehrsverhältnisse, Recherche-Abenteuer, Kinderspielzeuge, missratene Familienfeiern oder letzte Fahrten über den Santa Monica Freeway zu einem gleichförmigen, durchaus angenehmen Erzählstrom verdichtet finden, ist Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Stark, weil Kummer entgegen seinem vielleicht nicht völlig fremdverschuldeten Image kein hyperaktiver, sondern ein ganz und gar altmodischer, epischer Breite verpflichteter Autor ist. Dem jede erzählerische und sonstige Gefasstheit angesichts des wiederholt beteuerten autobiographischen Hintergrunds des Romans ohnehin nur zu wünschen wäre. Stark auch, weil Kummer nur selten und stets kontrolliert auf drastische Effekte setzt, sich also trotz naheliegender naturalistischer Schreibweisen zum poetischen Realismus bekennt. Zu dem eben Verklärung gehört.

Eine Schwäche bedeutet die stilistische Gleichförmigkeit des Romans folglich nicht etwa deshalb, weil Drastisches drastisch, Zartes zart und Ödes eben immer öde erzählt werden sollte. Sondern weil bei genauerem Hinsehen deutlich wird, dass Nina als Figur von diesem Erzählstrom eher verschüttet als getragen wird. Was durchaus ein Recht des trauernden Erzählers darstellt. So aber gilt für die Leserinnen und Leser tatsächlich, was der Erzähler einmal über sein «ständiges Inszenieren“ (nicht nur) des Sterbezimmers formuliert: Dass nämlich die blosse Anhäufung von Souvenirs Erinnerungen zwar aufruft, eine elementare, «nur durch Ninas Sterben» zugängliche Erfahrung jedoch zu verstellen droht. Ähnlich verhält es sich auch mit Kummers dennoch höchst lesenswertem Roman, der Anschaulichkeit und Tempo vor allem dort gewinnt, wo er sich an Souvenirs und kulturell möglichst bekannten Orten abarbeiten kann. Jenseits dieser Schlaglichter aus dem populären Archiv bleibt Nina wenig präsent. Ein solcher Entwurf von Personen anhand einiger weniger, stark codierter Signale verweist – noch immer – auf die Poetik der Popliteratur. Die sich, wie «Nina & Tom» zeigt, selbst unter völligem Abzug ironischer Distanzierungsgesten auch weiterhin nur mässig zur Trauerarbeit eignet. Dass Nina sehr viel mehr ist als die Requisiten ihrer Risikobiografie, kann Kummers Roman letztlich nur behaupten, nicht aber zeigen. Zu verfolgen sein wird demgegenüber, welche künstlerischen und auch stofflichen Freiheiten sich dem grossen Schweizer Erzähler Tom Kummer eröffnen, wo er ohne Rücksicht auf imaginierte oder tatsächliche Persönlichkeitsrechte seiner Zeitgenossen zu fabulieren beginnt. Nachdem er einst viel zu viel über langweilige Prominente und nun ein wenig zu wenig über eine interessante Unbekannte geschrieben hat, scheint der Weg dafür frei.

Tom Kummer: Nina & Tom. 253 Seiten. Berlin: Aufbau Verlag / Blumenbar 2017. ca. 28.90 CHF.

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