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«You fall into a state of torpor»

Mit «Ovibos moschatus» legte der in Biel lebende Levin Westermann 2020 seine erste Prosaschrift vor. In der Auseinandersetzung mit der Arktis als Archivraum von menschlicher und nicht-menschlicher Geschichte entwickeln die gesammelten Essays ein eigenwilliges poetisches Imaginationsverfahren, das jedoch zuweilen in ein moralistisches Plädoyer abzudriften droht.

Von Vera Thomann
20. September 2021

Westermanns Idee einer «endlose[n] Konversation», in der «wir alle an einem einzigen Buch schreiben» bereitet nicht nur das Feld für sein Schreiben, sondern ist methodischer Bestandteil des Essaybands selbst. Am ersten Essay Torpor lässt sich das Textverfahren des Bandes beispielhaft beobachten: Indem Westermann über ein sich ausweisendes Zitierverfahren Wissenschaftler*innen und Lyriker*innen, literarische Werke und historische Sachtexte sowie Welt- und Werkgeschichten neben- und ineinanderreiht, gibt sich die erzählte Recherche als Verfahren einer literarischen Epistemologie zu erkennen, die sich ihrer eigenen Geschichte und Methodik bewusst ist.

Zum Autor

Levin Westermann, 1980 in Meerbusch geboren, lebt in Biel. Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt a.M., danach Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut (Biel). Westermann ist als freier Schriftsteller tätig und debütierte 2012 mit seinem Lyrikband «unbekannt verzogen». 2019 legte er mit dem Gedichtband «bezüglich der schatten» nach, für das er 2020 mit dem Clemens-Brentano-Preis ausgezeichnet wurde. «Ovibos moschatus» ist Westermanns erste Prosaveröffentlichung.

Archivraum Arktis

Die Arktis dient Westermann dabei zur Verräumlichung dieses konstellierenden Verfahrens, denn aufgrund der klimatischen Bedingungen würden die in ihr aufbewahrten Gegenstände unbeschadet ihre Wiederaufnahme und Erforschung erwarten:

«Und da sich die Landschaft in der Hocharktis seit der Zeit der Paläo-Eskimos nur minimal verändert hat, kann ein Archäologe also an einem Kiesstrand durch die Überreste eines verlassenen Lagers gehen, einen Gegenstand aufheben, der dort vor 4000 Jahren zu Boden gefallen ist, und dann mit eigenen Augen die Landschaft betrachten, die auch der Handwerker sah, der den Gegenstand gefertigt hat. Allein die Vorstellung, dass dies möglich ist, lässt mich schaudern. Vertigo. Der Blick zurück – der Abgrund Zeit.»

Westermann skizziert die Arktis in der Folge als geografisch wie literarisch bestens kartierten Raum, der sich aufgrund seiner historischen und kulturellen Forschungsgeschichte wiederum als Archivraum anbietet – der nicht nur seine Gegenstände, sondern gleichsam deren Forschungspraktiken bewahrt. Das Wissen der Arktis wird demnach erst in der Überschneidung zwischen geographischer, historischer und literarischer Erforschung lokalisierbar, weshalb die polare Raumerschliessung nicht als Inskription, sondern immer bereits als Transkription zu verstehen ist – als ein ‹Wiederaufheben› der Gegenstände und ihrer Forschungsgeschichten. Die titelgebenden Moschusochsen, deren Lebensform und Geschichte im zweiten Essay bruchstückartig mit derjenigen von Sylvia Plath und Ted Hughes konstelliert werden, repräsentieren in der Form von lebenden Beweisen eine verwandte Idee: Eine die Zeit überdauernde, alternative Existenzform, die zugleich als vulnerable und von der Gewalt des Menschen geprägte verstanden und literarisch erkundet werden will. Das Erzählen der Spezies Ovibos moschatus stellt so einen dezidiert existenziellen Anspruch an die Literatur, allerdings im Entwurf einer nicht-menschlichen Geschichte.

Dichtungsprinzip «Schädelöffnung»

Den Ursprung seiner intertextuellen Suchbewegung situiert Westermann im Gefühl einer intuitiven emotionalen Verbundenheit mit anderen künstlerischen Werken, die im besten Fall eine «Schädelöffnung» hervorrufen – eine Energieübertragung, die spirituellen Wert habe. Westermanns Essays funktionieren denn auch als Annäherungsbewegung an jenes Gefühl der Schädelöffnung, welches nach Emily Dickinson die Wirkungsweise der Dichtung bestimmt: «If I feel physically as if the top of my head were taken off, I know that is poetry. These are the only ways I know it. Is there any other way?» Bei Dickinson ist das Abnehmen der Schädeldecke allerdings gerade nicht als Energieübertragung, sondern als eine brachiale vivisektorische Geste angelegt, die auf den Verbund von Geist und Körper hinweist – währenddessen sich Westermann eher einem esoterisch angehauchten Denkbild hingibt.

Westermann spielt in Torpor jedoch zumindest auf einen Verbund von Dichtung und Physis an, verknüpft er doch den Zauberspruch aus dem Game EverQuest, welcher der Spielerin durch die Verlangsamung des Avatars Heilung bringt, mit dem Hunger- oder Kälteschlaf, der die Lebensumstände der indigenen Urbevölkerung in der Hocharktis geprägt habe. Umgeben von Dunkelheit und Kälte, so leitet Westermann her, könnte die Fantasie einer Zukunft als lebenswichtiger, nährender Quell fungiert haben. «You fall into a state of torpor» dient so gleichsam als biologischer, speziesübergreifender wie ludischer Imperativ: Torpor als poetisches Prinzip heisst, im Zustand der physischen und psychischen Entbehrung eine alternative Form der Wahrnehmung, der Zeitlichkeit und der emotionalen Verbundenheit entwerfen zu müssen.

«Your state of torpor ends»

Ein an jene Verbundenheit anbindendes, weiteres Leitthema von Ovibos moschatus bildet die Vernachlässigung von moralischen Pflichten gegenüber der belebten Welt, die insbesondere im Essay Moral Duty ausgeführt wird. Die Aneinanderreihung von Unrechten, die Tieren angetan werden, lässt Westermann hierbei sukzessive in einen priesterlichen, moralistischen Ton verfallen. So erscheint das fragile Zitatgewebe plötzlich weniger als Essay denn als Sermon: disparat, sprunghaft und ohne Leser*innenführung. Man wünscht sich an dieser Stelle eine Reduktion des Zitatteppichs, das Einfordern von Differenzen, wenn es um das Leid der nicht-menschlichen Welt geht und den Miteinbezug von jener poetischen Qualität, die Westermann etwa am Beispiel des Moschusochsen stark macht. Derart wäre es möglich, den Entwurf einer nicht-menschlichen Geschichte und Zeitlichkeit in eine Poetik zu fassen, die so notwendig wie literarisch zu sein hätte. Die Informationsflut und der bisweilen erzieherische Gestus verhindern hingegen, dass in Moral Duty eine poetische Eigenlogik überhaupt erst entsteht.

Und hier endet denn auch der literarische Zauber – «your state of torpor ends» –, für den Ovibos moschatus nomenklatorisch einsteht: für die Erkundung einer nicht-menschlichen Zeitlichkeit und eine beizubehaltende Fragilität des Nebeneinander-zu-stehen-Kommens, welche die Verbindungslinien von Kolonialismus, tierischen Existenzen und einer Politik der Literatur konstellierend zu erforschen weiss.

Levin Westermann: Ovibos moschatus. 202 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2020, ca. 29 Franken.