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Literatur to go

Bei Julia Haenni ist der Name Programm: Ihr Büchlein «kiosktexte» vereint Verschiedenartiges, leicht Konsumierbares auf kleinem Raum. Ein Buch wie ein Kiosk.

Von Sari Pamer
6. September 2021

Während ihrer Zeit als Hausautorin am Konzert Theater Bern kam Julia Haenni die Idee, einen mobilen Textkiosk aufzustellen. Damit wurden Textbestellungen überall möglich, ob auf dem Marktplatz, einem Openairkonzert oder online – immer dann, wenn sie gerade gefragt und gebraucht wurden. Die Ideen für die Texte gaben die Auftraggeber:innen vor, woraufhin die Autorin diese auf der Stelle literarisch umsetzte. Literatur, so das Konzept, wird damit zur direkten Dienstleistung. In ihrem Büchlein kiosktexte stellt Haenni ein Best Of dieser Literaturbestellungen zusammen, die eine breite Palette an Textgattungen versammelt. Entsprechend enthält die von ihr arrangierte Gebrauchsliteratur Manifeste, Geburtstagswünsche, Kindergeschichten, Beerdigungsreden, Datenanfragen, Dialoge für die Bühne und vieles mehr. So unterschiedlich die Texte sind, eines haben sie gemeinsam: Allesamt sind sie Auftragsarbeiten, die in kürzester Zeit entstehen und in Kürze konsumiert werden – vergleichbar mit dem Coffee to go vom Kiosk.

Zur Autorin

Julia Haenni, geboren 1988 im Aargau, lebt und arbeitet in Bern und Zürich. Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik in Bern und Berlin sowie Theaterregie an der ZHdK. Haenni arbeitet als freie Autorin, Performerin und Regisseurin im deutschsprachigen Raum. Seit 2011 ist sie im Theaterkollektiv «das schaubüro» aktiv und realisiert regelmässig freie Theaterprojekte. Regiearbeiten, Texte und Engagements als Schauspielerin führten Haenni u.a. ans Schlachthaus Theater Bern, ans Theater Neumarkt und Theater Winkelwiese in Zürich. In der Spielzeit 2018/19 war sie Hausautorin am Konzert Theater Bern. Seit 2015 ist Haenni Co-Leiterin und -Kuratorin des transdisziplinären Kunstprojekts «transform», das Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Bern platziert.
Foto: © Mali Lazell

Poetik der Jetztzeit

Die kiosktexte behaupten nicht etwas Abgeschlossenes oder Ganzes zu sein – sind sie meist auch nicht, denn zwischen Bestellung und Lieferung der Texte bleibt nur wenig Zeit, so funktioniert ein Textkiosk eben. Haennis Kundschaft ist unterwegs und will den jeweiligen Auftragstext direkt mitnehmen. Alles findet im Jetzt statt, ist im Jetzt gedacht, gefühlt, gesprochen. Und alles muss im Jetzt raus: Eine Person sitzt in der Bibliothek und beobachtet dabei eine andere, kann sie aber nicht ansprechen, da dort die «Psst-Regel» herrscht. Auf die lyrische Beschreibung der Bibliotheksszene folgt die entscheidende Frage, wann sich die beiden auf einen Kaffee treffen sollen, auf Mundart: «Am Vieri. Oder am beschte grad jetzt.» Durch den Wechsel von Schriftdeutsch und Mundart wird die Nähe zur gesprochenen Sprache verstärkt und Haennis Texte werden zur humorvollen Unterhaltung, die einen immer wieder schmunzeln lassen.

Schneller als das Denken

Haennis kiosktexte sind geprägt von Fragen und Unklarheiten – Gedankengänge schieben sich zwischen Dialoge, aufgeworfene Fragen bleiben mitunter unbeantwortet. Darüber hinaus entwickelt die Autorin in ihren Texten eine ganz eigene Sprache, die sich insbesondere durch Witz und den Aufruf zu gendern auszeichnet, allerdings ohne moralisierenden Anstrich. Konsequent verzichtet der Text auf das generische Maskulinum und zieht dessen Gebrauch bisweilen ins Lächerliche, wenn er die weiblichen Formen besonders emphatisch heraushebt. So auch im Text ä schwiizergschicht, welcher von «schweizer INNEN» anstatt von Wilhelm Tell handelt. Nicht der Landamman Werner Stauffacher ist der Namensgeber des Zürcher Platzes, sondern eine Frau: «die stauffacherin»! Auch wenn dieses fiktive Szenario einer von Frauen regierten Schweiz nur eine Illusion bleibt, wirft es kritische politische Fragen auf. Warum sollten Weiblichkeit und Männlichkeit hinterfragt und wie können weibliche und männliche Rollenbilder verändert werden? Auch Haennis Protagonist:innen müssen immer wieder nachdenken und nachfragen; bisweilen verstehen sie nicht einmal, was sie selber sagen. Damit machen die kiosktexte ein Sprechen sichtbar, wie wir es im Alltag hören, jedoch selten in einem Buch lesen und veranschaulichen, dass Sprache eben schneller wirkt als das Denken.

Obwohl oder eben vielmehr weil die Poetik der kiosktexte ein Gegenprogramm zum Idealbild literarischer Sprache entwickelt, gräbt sie tief. Haennis Texte kommen humorvoll daher und lösen einen kurzen Moment der Reflexion aus. Doch so schnell wie sich die Beiträge lesen, so schnell sind sie auch verbraucht. kiosktexte liefert keine literarische Ware von Dauer: Diese Texte sind für den sofortigen Gebrauch gemacht – wie Zigaretten, Kaugummis oder Lottoscheine, die man im Kiosk kauft.

Julia Haenni: kiosktexte. 114 Seiten. Bern: Edition taberna kritika 2020, ca. 23 Franken.