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«Ich bin überzeugt, dass uns die Sinnlichkeit retten kann.»

Die schweizerisch-rumänische Schriftstellerin Dana Grigorcea ist auf vielen künstlerischen Bühnen daheim. Im Gespräch erzählt sie, was Musik und Architektur mit ihrem Schreiben zu tun haben, wieso Kunst und Politik aufeinander angewiesen sind und wir Literatur brauchen, die erschüttert.

Von Redaktion
13. September 2021

Frau Grigorcea, Sie sind Theater- und Filmregisseurin, Journalistin, Verlegerin, Mutter, Schriftstellerin und Kinderbuchautorin – Wie geht das alles zusammen?

Das ergänzt sich. Kinderbuchautorin bin ich tatsächlich geworden, weil ich Kinder habe und ihnen gerne Geschichten vorlese. Ich erzähle ihnen Geschichte, damit sie von selber darauf kommen, dass ich immer recht habe. (lacht) Eines Tages habe ich eine wunderbare Illustratorin kennengelernt, die Skizzen zu einer meiner Erzählungen anfertigte. Die Kinderbücher entstanden also als Kollaborationsprojekt. Mein neustes Bilderbuch, Marius fliegt nach Afrika, handelt von einem Thema, das mich auch in meiner Prosa beschäftigt: Migration.

Ist denn Migration ein Thema für Kinder?

Migration ist definitiv ein Thema, das für Kinder schon sehr früh zu ihren Alltagserfahrungen gehört. Manche haben sogar Klassenkamerad*innen, deren Familienmitglieder geflüchtet sind oder auf der Flucht ertrunken sind. Das Buch erzählt vom Jungstorch Marius, der zum ersten Mal nach Afrika fliegt, weil es ihm dort, wo er lebt, zu kalt ist. Diese Reise ist nicht mindergefährlich als die Reisen der Menschen in die umgekehrte Richtung. Die Frage, die den Storch beschäftigt, ist die nach der eigentlichen Heimat, und er kommt zum Schluss, dass Afrika nun auch sein Zuhause ist.

Welchen Stellenwert hat die Literatur in ihrem gesamten künstlerischen Schaffen?

Einen sehr grossen Stellenwert, was mit dem Umstand zusammenhängt, dass ich in einer kommunistischen Diktatur aufgewachsen bin. Für mich war die Literatur ein Fenster zur Welt, denn ich konnte in ihr alles finden: andere Welten, aber auch mich selbst. Das wünsche ich allen, insbesondere Kindern und Jugendlichen. Unser Leben fusst auf Geschichten: Sie zeigen uns, wie wir Dinge benennen können, und indem wir die Dinge benennen, machen wir sie uns ein Stück weit zu eigen und schaffen uns über die Sprache einen Zugang zur Welt.

Zur Autorin

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Für ihren 2021 erschienenen Roman «Die nicht sterben» war Grigorcea für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde mit einem der Schweizer Literaturpreise ausgezeichnet.
Foto: © Lea Meienberg.

Sie sind ein grosser Musikfan: Wie schlägt sich die Musik in Ihren Geschichten und in Ihrer Erzählsprache nieder?

Ich weiss nicht, was zuerst war: die Bühne oder das Leben. Ich bin in Bukarest gleich gegenüber von der Oper aufgewachsen und habe in allen Städten, in denen ich gewohnt habe, die Nähe zur Oper gesucht – in Berlin, in Wien und hier in Zürich, wo ich Statistin am Zürcher Opernhaus bin. Ich interessiere mich auch für Jazz, Pop und Rock, im Grunde für alles, was einen Rhythmus hat und eine Interpretation der Welt und ein Gegenüber erfahrbar macht. Sprich: Für alles, was einen bewegt.

Deshalb interessieren mich auch Räume und ihre Wirkung auf uns und darauf, wie wir uns in ihnen bewegen. In meinem Roman Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit ging es um Bukarest, eine Stadt wie ein Palimpsest: Die Stadt ist immer und immer wieder überschrieben worden. In den Strassen – besonders in der Architektur – finden sich zahlreiche Spuren aus unterschiedlichen Epochen. Mir ging es um die doppelte Frage, was diese Orte mit uns machen und wie wir wiederum diese Orte gestalten: Was machen architektonische Spuren des Fin de Siécle mit den Menschen im Kommunismus? Wie spaziert man heute durch die Strassen der Stadt? Wie baut man diese Stadt weiter?

Nebst Migration und Musik gibt es noch ein weiteres zentrales Motiv in Ihrem Schreiben: die Sinnlichkeit.

Richtig. In meiner Novelle Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen habe ich versucht, das Thema literarisch zu ergründen. Die Ausgangslage ist wie folgt: Eine Balletttänzerin, die am Ende ihrer Karriere steht, verliebt sich in einen Gärtner. Die Frage ist nun, welche Gesten ihr im Leben bleiben, wenn sie bereits alle Gesten der Verliebten auf der Bühne getanzt hat. Überführt die Balletttänzerin alles, was sie abseits der Bühne erlebt, in die Kunst? Bleibt es folglich auch im Leben bei den ästhetischen Formen? Oder verwandelt die Kunst die Künstlerin so, dass die ästhetische Schärfung ihrer Sinne sie das Schöne auch im Alltag sehen lässt? Ich habe keine endgültige Antwort darauf.

Literatur ist ein Gedankenspiel, ein ständiges Wegrücken von der gewohnten Perspektive. Sie öffnet uns fortwährend neue Fenster zu überraschenden Orten: plötzlich kommt das Licht von oben, plötzlich leuchtet es von einer Dachlücke herab. Literatur sollte unser Leben erschüttern wie ein Erdbeben, doch dafür braucht es wiederum die Bereitschaft, das mit sich geschehen zu lassen.

In der Zeit der Pandemie wurde die Frage nach der Bedeutung von Kunst und Literatur wieder virulent: Welche Rolle spielt die Kunst in unserer Gesellschaft? Sind wir noch bereit, uns auf Gedankenspiele einzulassen? Fragen wir uns noch, welche drei Bücher wir auf die einsame Insel mitnehmen? Ich bin überzeugt, dass uns die Sinnlichkeit retten kann.

Sie erzählen oft von Künstler:innen, die nicht gerettet werden.

Es gelingt nicht immer, und das verblüfft einen. Nach der Wende habe ich mich mit vielen Künstler:innenbiographien beschäftigt und dabei herausgefunden, dass einige kollaboriert haben, also Profiteur:innen des Regimes waren. Vor diesem Hintergrund stand das, was sie gelebt haben, in totalem Widerspruch zu dem, was sie geschrieben haben. Das hat mich sehr irritiert. Warum hat das, was sie in ihren Geschichten beschreiben, sie selbst nicht verwandelt? Das ist ein Thema, das mich ständig begleitet und ein Motor meines Schreibens ist: Wie macht man sich schuldig? Und weiter: Wie macht man sich unschuldig schuldig? In meinem neusten Buch, Die nicht sterben, geht es genau darum: Politikerfiguren, die wie Untote wieder auferstehen; die Besiegten kommen wieder. Das beschäftigt mich sehr: Wieso kehren bestimmte Themen wie Nationalismus, Populismus, Chauvinismus immer und immer wieder zurück? Wieso können wir unsere Vorurteile nicht besiegen?

Wie wäre das denn zu schaffen?

Mit gelebter Demokratie: Man muss sich am demokratischen Prozess beteiligen. Genauso ist es auch mit der Kunst: Wenn wir eine lebendige Kunst wollen, müssen wir uns fragen, ob wir die notwendigen Lebensgrundlagen dafür schaffen. Lassen wir uns von ihr berühren? Oder brauchen wir Kunst nur als guten Stoff für Plaudereien? Ist die Lektüre eines Buches ein einschneidendes Erlebnis oder ein Zeitvertreib? – Dabei kann das Erlebnis durchaus auch als Zeitvertreib beginnen. Bei Tschechow heisst es: Ich gehe mich mit einem Buch langweilen. Er beschreibt die Bereitschaft, Stille und Langeweile anzunehmen. Stille ist nicht Stillstand, das meinen wir nur.

Welche drei Bücher nehmen Sie mit auf die Insel?

Ich nehme jede Woche drei andere Bücher mit. Vergangene Woche war das Pan von Knut Hamsun. Hamsun war ein Bewunderer von Adolf Hitler, und man fragt sich, wie ein Mensch, der Freude und Leid mit so viel Feingefühl beschreibt, sich in seinem Leben auf eine so falsche Seite schlagen kann. Dann las ich Das Zimmer von Alan Schweingruber, das von einem Patienten erzählt, der nach einem Unfall eifersüchtig wird auf seinen Bettnachbarn im Spitalzimmer. Und dann Tod in Genua von Romana Ganzoni. Darin geht es um eine Tante aus Genua, die das sinnliche Leben gefeiert und sich immer mit Schönheit umgeben hat, was schliesslich aber zum Untergang der Sinnlichkeit eines Paares führt und in einem Showdown auf einem Friedhof endet. Als Leserin eines guten Buches denke ich: Das habe ich schon immer gefühlt, aber ich hatte keine Worte dafür.

Das Gespräch führte Martina Albertini. /Foto: © Mardiana Sani