KW52

«… und wenn wir scheitern, dann schon tragisch.»

Tom Kummer

Während die vorweihnachtlichen Schlagzeilen vom Fall Claas Relotius beherrscht werden, stellt sich dem Betrachter mitunter die Frage, wie jene öffentlichen Selbstreinigungsakte der Zeitungsmedien eigentlich zu lesen sind - und was sie mit Blick auf die Geschichte des journalistischen Fakes bedeuten. Wir haben uns darüber mit demjenigen unterhalten, der es am besten wissen muss: Tom Kummer, der vor knapp zwanzig Jahren mit fingierten Hollywood-Interviews selbst dem Journalismus ein veritables Skandalon bescherte.

Von Redaktion Buchjahr
24. Dezember 2018

Tom, Du verfolgst die Berichterstattung zum Fall Claas Relotius: Was erleben wir da eigentlich gerade?

Mir fällt zunächst auf, dass hier offensichtlich Anwälte im Spiel sind, die den SPIEGEL-Leuten erklären wollen, dass man diesen Autor zum Betrüger stilisieren soll. Ich weiss ja nichts von Claas Relotius. Ich erlebe ihn nur als Projektionsfläche dieser redaktionellen Selbstenthüllungs-Orgie, die mir natürlich bekannt vorkommt und die mit zum Schlimmsten gehört, was ich je gelesen habe.

Inwiefern?

Da wird ein Feindbild skizziert, das als Negativfolie der journalistischen Selbstbeschreibung dienen soll. Je böser und unvorstellbarer der Betrug, umso reiner und moralischer der «wahre Journalismus». Dazu das Pathos des an der Selbstanforderung zerbrochenen Helden: Egal, wer wo was schreibt, alle haben wir doch eine Fallhöhe, und wenn wir scheitern, dann schon tragisch.

Also geht es um Katharsis?

Bullshit nenne ich das. Katharsis ist das, was inszeniert wird. Rein sachlich geht es aber darum, den vorher gefeierten Star-Schreiber in die ewigen Jagdgründe zu versenken. Man zeichnet ihn als Typen, der eine klare Masche hatte, einen Trickbetrüger, einen Hochstapler, einen Menschen, der genau wusste, was er tat – obwohl er als Redakteur so scheu und zuvorkommend erschien. Der Journalismus erstellt jetzt folglich das Psychogramm eines Mannes, der die heilige Branche Journalismus verraten haben soll.

Zum Autor

Tom Kummer, geboren 1961 im Berner Länggassquartier, zog 1985 nach Westberlin und wurde dort von Hans Magnus Enzensberger entdeckt, für dessen Transatlantik-Magazin er erste Kurzgeschichten verfasste. 1987 nahm er eine Journalistenkarriere beim Tempo auf; ab 1993 arbeitete Kummer als fest-freier Autor in Los Angeles für das Magazin der Süddeutschen Zeitung und das Magazin des Zürcher Tagesanzeigers. 1994 wurde er für eine Geschichte über den Schriftsteller Richard Ford für den Joseph-Roth-Preis nominiert. Seine inszenierten Interviews mit Hollywood-Stars lösten 2000 einen Medienskandal aus, der 2009 im Dokumentarfilm Bad Boy Kummer - basierend auf Kummers Autobiografie «Blow Up» - aufgearbeitet wurde. 2017 erschien sein Roman «Nina & Tom», mit dem Kummer seiner 2014 verstorbenen Frau ein Denkmal setzte. 2016 kehrte er - nach knapp 25 Jahren Los Angeles - wieder nach Bern zurück. Für seinen letzten Roman «Von schlechten Eltern» (2019) wurde Kummer für den Ingeborg-Bachmann-Preis (2019) und den Schweizer Buchpreis nominiert (2020).
Foto: © Thilo Larsson

Welche Funktion hat deiner Meinung nach der Journalismus heute im Allgemeinen und das Genre der Reportage im Besonderen?

Ich kann das nicht ehrlich beantworten. Ich bin nie als Journalist angetreten, immer als Schriftsteller, als jemand, der Wirklichkeit – also auch Erlebtes, aber eben noch viel mehr: Emotionen, Projektionen, Albträume, Vermutungen, Halluzinationen, Momente in denen ich schlecht gefrühstückt habe, Drogenexzesse, Depressionen, Freudentaumel, Sexnächte, Verliebtheit – alles, was das Leben reizvoll macht, aber eben gerade nicht die Fakten, sondern die möglichen Fiktionen des Lebens – in Texte verarbeitet. Und zwar so stylish wie ein perfekt produziertes Album von Rick Rubin – dass es knallt. Und dass man beim Lesen auch ein bisschen süchtig wird, vom Text, vom Sog. Das ist die Funktion von Texten allgemein. Und wenn sie in der NZZ stehen, oder im Spiegel oder in der Süddeutschen Zeitung dann ist das eine Dienstleistung an den LeserInnen, an der Welt. Aber sicher kein Journalismus. Fuck Journalismus.

«Fuck Journalismus»?

Genau. Oder, wie es kürzlich die TAZ formuliert hat: «Der Spiegel hat, wie andere große Blätter auch, Standards gesetzt, nach denen heute journalistische Texte erzählt werden. Porträts und Reportagen leben von einer möglichst großen Nähe. Vom Nacherzählen, Nachfühlen, von Emotionalität und Details. An Journalistenschulen lernt der Nachwuchs, dass Reportagen ein ‹Kino im Kopf› erzeugen sollen, dass ein guter Text starke ‹Protagonisten› braucht und einen ‹Konflikt›, dass die ‹Dramaturgie› des Textes wichtig ist etc. Man lernt, die Texte nicht Artikel zu nennen, sondern ‹Geschichten›. Journalistenschüler belegen ‹Storytelling›-Seminare, als schrieben sie für Netflix.» Also was soll diese heuchlerische Aufregung über einen Autor wie Claas Relotius, der das perfekt beherrscht?

Worin genau besteht das Vergehen von Relotius? Kann man das «Betrug» nennen? Und wenn: Betrug an wem?

In meinem Fall damals hat man den Begriff «Betrug» recht bald wieder fallen lassen, weil ich als «Journalist» Tom Kummer nicht aktiv und persönlich versucht habe, meine Chefs durch irgendwelche Lügengeschichten von der Echtheit meiner Arbeit zu überzeugen, sondern meine Texte einfach kommentarlos geliefert habe. Bei Claas Relotius könnte es womöglich anders aussehen: Er sass in der Redaktion, er musste also vermutlich manches vorspielen, Spuren verwischen. Er war ja total präsent im Redaktionsalltag. Das könnte ihm eventuell zum Verhängnis werden, falls vor einem Gericht über die Betrugsabsichten verhandelt wird.

Lautet die aktuelle Frage – und das greift jetzt natürlich viel weiter – wirklich: «Ist der heutige Journalismus faktentreu?» Ginge es nicht vielmehr um die Überprüfung unserer Ansprüche an den Journalismus, der ja eben erzählen soll?

Das Thema «Fake» ist ein Generationsproblem. Es interessiert einen Grossteil der Jugendlichen, denen ich begegnet bin – auch meine eigenen Kinder – nicht besonders. Für sie ist Objektivität genauso wie Wahrheit und Wirklichkeit in den Medien ein reiner Mythos. Jedenfalls ist das meine Erfahrung bei Vorträgen und Podiumsgesprächen. Die Faktentreue wird heute eh angezweifelt – was in Ordnung ist, denn es liegt in der Natur der Menschheit, Wirklichkeit unwahr zu vermitteln. Das fängt schon bei der Erzählung über die Weihnachtsfeier an, die bei allen Beteiligten jeweils zwanzig unterschiedliche Versionen hergibt. Es gibt Autoren, die können Wirklichkeit fantastisch filtern, die machen das richtig gut, und verarbeiten «journalistische Recherche» zu grossartigen Texten. Das sind die sogenannten «Literaten» unter uns, die Schreibtalente, die grossen Stilisten. Meistens sind das keine Faktensammler oder Moralapostel oder Menschen die sich für Authentizisten halten. Es sind keine Schweinejournalisten, die andere Leute fertigmachen wollen, und überhaupt einen Kick dabei bekommen, wenn sie die Mächtigen anschwärzen können, sondern Leute, die gute Texte lieben und eigentlich verliebt sind in gute Literatur. Es gibt auf der anderen Seite sehr viele Journalisten, die machen das richtig schlecht. Sie langweilen uns. Aber immerhin geben sie uns die Möglichkeit, schlechte Schreiber von guten Autoren zu unterscheiden.

Aber was interessiert Dich am Journalismus?

Mir ist es zumindest nicht besonders wichtig, ob der Journalismus Kampagnen lancieren kann, um Präsidenten oder CEOs zu stürzen. Oder ob er mich auf den Weltuntergang vorbereitet. Was mich mehr interessiert: Das Aroma der Welt, der Sound des Lebens. Eine Haltung erfahren.

«Fake News» gelten ja mittlerweile als Kampfbegriff der Rechten gegen den Journalismus, fungieren aber auch als Abgrenzungsbegriff des Journalismus gegen eine Politik, die auf erfundenen Fakten aufbaut. Kann und darf der journalistische Fake vor diesem Hintergrund immer noch eine aufklärerische Funktion besitzen?

Die Aufklärung liegt in der Erweckung unseres Fantasie-Potentials, im Erweitern unseres geistigen Horizonts, unserem Gefühl für die Welt, die ein guter, literarischer Fake freisetzt. Ganz anders der Fake als Kampfbegriff: Das ist ein reiner Virus, ein Anschlag, eine Waffe, die manipuliert, um politische oder wirtschaftliche Macht zu ergreifen. Damit will ich nichts zu tun haben. Ich finde auch, dass man sowas erkennen kann. Oder dass man Menschen dazu ausbilden sollte, wertvolle Fiktionen von bösartigen Fakes zu unterscheiden.

Aber man kann das ja gegenwärtig nicht losgelöst vom politischen Horizont diskutieren. Ist die Akzeptanz von journalistischer Fiktion nicht gerade auch Wegbereiter für die Akzeptanz der Demagogie?

Leider, ja. Darum sollte man sich grundsätzlich nicht auf «Journalismus» verlassen, sondern auf Literatur, auf Fiktionen. Auf seinen gesunden Menschenverstand. Und der wird von Sinnlichkeit und persönlichen Erfahrungen bestimmt. Es ist Blödsinn, zu glauben, man könne Aufklärung durch Journalismus betreiben. Es geht nur durch eigene Erfahrung. Oder literarische Erfahrung. Man sollte Autoren lesen, die uns in ihre Welt verführen. Denn die Welt, die uns der Journalismus präsentiert, hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Sie ist ein Klischee. Wenn man was über die Wirklichkeit erfahren will, dann liest man besser Gabriel Garcia Marquez oder Christian Kracht oder Cormac McCarthy oder Haruki Murakami. Das erzählt einem etwas über die Welt.

Der Spiegel nicht?

Ich verstehe diese ganze Aufregung überhaupt nicht. Also: Ich verstehe sie schon, aber sie ist eben von Grund auf unehrlich. Claas Relotius als der grösste Skandal der deutschen Pressegeschichte? Warum? Der Spiegel hat schon immer gelogen, das war doch klar. Man hat ihn ja auch nicht gelesen, weil man die Wahrheit in ihm gesucht hat, sondern wegen seiner grossartigen Autorinnen und Autoren. Und das tut man ja auch heute noch, auch bei der Zeit, der SZ, der FAZ.

Gilt das auch für Relotius?

Ja. Grossartiger Autor, der ganz offensichtlich genau verstanden hat, was Journalismus ist und wie man ihm beikommt. Grossartige Reportagen. Ich kann nur nicht verstehen, warum ihm das alles im Nachhinein leid tut oder er sich sogar für «krank» erklärt. Ich lese meine Lieblingsautoren in den Zeitungen ja nicht, weil ich glaube, dass sie mir Fakten erzählen. Sondern weil ich ihren Stil mag, ihre Haltung. Guter Journalismus, der, den man gerne liest, hat mehr mit den Ramones oder David Bowie zu tun als mit Rudolf Augstein. Da geht es nicht um «Authentizität», sondern um eine verdammt gute Fantasie von der Welt. Das ist eben das berühmte «Kopfkino». Wie Sex. Wie Sehnsucht. Wie Reichtum. Wie Erfolg. Es gibt nichts Besseres, als in der Fantasie zu existieren und dabei Glück zu empfinden. Kein Neid, keine Machtgelüste. Einfach zu existieren, ohne Deinem Mitmenschen zu schaden.

Das Interview führten Christoph Steier und Philipp Theisohn in einem regen Mailwechsel.

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