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Porträt mit Krimi-Elementen und Gammelhai

Anna Stern

Joachim B. Schmidt lebt in Island und hat mit «Kalmann» gerade seinen vierten Roman bei Diogenes veröffentlicht. Emanuele Jannibelli im Gespräch mit einem Krimiautor, der seine Figuren erst beim Schreiben richtig kennenlernt, auch mal das Interesse am eigenen Kriminalfall verliert oder sich von seinem Personal zum Happy End überreden lässt.

Von Redaktion
2. November 2020

Wie bist Du auf die Idee gekommen, nach Island auszuwandern?

Mit 16 Jahren war ich zum ersten Mal in Island und gleich mächtig beeindruckt. Meine Patin hatte mir die Reise zum Geburtstag spendiert. Da habe ich mich Hals über Kopf in dieses Land verliebt und mir gleich geschworen, wieder zu kommen, vielleicht auch für längere Zeit. Dann bin ich als Tourist mit Zelt und Schlafsack hingegangen und 2003 dann ein ganzes Jahr geblieben, auch im Winter. Ich wollte das erleben. Den Sommer finden ja alle schön, aber die Dunkelheit und den Wind wollte ich erleben. Auch das hat mir gefallen. Ich habe die Ausbildung zum Journalisten gemacht und bin 2007 ganz ausgewandert. Bis dahin hatte ich daheim in der Schweiz Island immer vermisst.

Wie ist es als Schweizer, in der doch eher geschlossenen Gesellschaft Islands zu leben?

Ich habe schon gemerkt, dass es schwierig sein kann. Die Isländer kennen sich gegenseitig halt sehr gut, sind miteinander aufgewachsen. Man wird sehr schnell willkommen geheissen und ist es auch, vor allem als Schweizer, die sind sehr beliebt in Island. Aber wenn ich nicht eine isländische Frau hätte, wäre ich noch nicht in dieser Gesellschaft drin. So hingegen hatte ich automatisch eine isländische Familie. Aber tiefe Freundschaften zu erwerben, ist sehr schwierig, weil man eben diese gemeinsame Vergangenheit nicht hat. Das ist aber bei uns doch auch so. Meine besten Freunde sind immer noch meine Jugendfreunde!

Wie kommt man an die Isländer heran. Hättest Du da einen Tipp?

Man freundet sich natürlich relativ schnell mit anderen Ausländern an, weil das gemeinsame Schicksal verbindet. Man hat ja auch eine gemeinsame Leidenschaft: Island. Die meisten Ausländer leben in Reykjavik. Da habe ich gesehen, dass es für Paare schwieriger ist, wenn beide Ausländer sind. Auf dem Land ist das einfacher. Darum der Tipp, sich ausserhalb Reykjaviks niederzulassen.

Tatsächlich? Bei uns ist es doch eher umgekehrt.

Das ist aber interessant! [überlegt] Du hast wirklich recht, es ist umgekehrt. Auf dem Land braucht es in Island eben Leute. Man ist froh um jeden, der kommt und bleibt und etwas machen will. Viele Gegenden leiden unter Abwanderung. In Reykjavik hingegen kann man schon vereinsamen.

Du lebst in Reykjavik?

Ja, aber in den ersten Jahren wohnte ich auf dem Land.

Zum Autor

Joachim B. Schmidt, geb. 1981 in Thusis (Graubünden), lebt heute in Reykjavik. Seit 2007 ist er als Autor, Journalist und Reiseleiter auf Island tätig. Schmidts Romandebüt «In Küstennähe» erschien 2013 im Landverlag. «Tell» ist Schmidts fünfter Roman.
Foto: © Eva Schram

Du kennst deinen Romanschauplatz Raufahöfn also aus eigener Anschauung?

Den Ort selber hatte ich vorher nicht gekannt, ich bin erst zum Recherchieren hingefahren. Aber das Land hat mich schon angezogen. Von meiner Bündner Herkunft her habe ich eine ländliche Seele, darum wollte ich auch, dass das ländliche Island eine wichtige Rolle in dem Buch spielt. Aber andere Orte wie Raufahöfn habe ich schon gekannt, solche, die oft gegenüber Reykjavik aufmucken. Dieser Sachverhalt war mir aus der Schweiz vertraut…

Hättest Du ein Buch, das in Island spielt, auch dann geschrieben, wenn Du in der Schweiz leben würdest? Oder muss man dazu in Island leben?

Ja, es ist fast unumgänglich. Am Anfang des Schreibprozesses habe ich dieses Gefühl vielleicht nicht gehabt. Aber mit der Zeit schon. Ich habe gemerkt, dass ich einen Ort wie Raufahöfn brauche. Es konnte nur dieser Ort sein. So viele in der Art gibt es auch in Island gar nicht mehr. Wenn ich ihn beschreibe, lasse ich aber trotzdem vieles offen. Dies reicht meistens. Jeder macht sich dann mit seiner Erfahrung und seiner Fantasie sein eigenes Bild.

Eine weitere isländische Spezialität ist der sogenannte Gammelhai, der wie stark stinkender Käse riecht und erst nach einem aufwendigen Konservierungsprozess überhaupt essbar ist. Kalmann beherrscht diese Verfahren offenbar virtuos und ist darum stolz auf das angeblich beste Gammelfleisch von ganz Island. Was will uns der Autor damit sagen?

Zunächst ist es ein gutes Mittel, um dem deutschsprachigen Leser zu zeigen, dass man in einer anderen Welt ist, dass es dort oben exotisch ist, und auch, dass Kalmann anders ist, weil er ja Gammelhai mag. Aber genauso wichtig ist der Gedanke mit dem Geruch, weil der Grossvater ja dement ist und mit dem Geruch zurückgeholt werden kann. Nur mit dem Öffnen der Dose Gammehai kommt Kalmann an den Grossvater noch heran. Der Geruchssinn ist ja etwas vom letzten, was dem Menschen noch bleibt und was Erinnerungen weckt.

Hat der Name Kalmann eigentlich etwas mit «kall», also kalt zu tun? Dazu muss ich sagen, dass ich beim Lesen schon früh das Gefühl hatte, dass Kalmann mehr als nur zufälliger Finder der Blutlache ist, dass er irgendwie persönlich involviert sein könnte, und ich habe begonnen, Indizien zu sammeln, die in diese Richtung weisen. Kann es also sein, dass ein Kalmann Menschen kaltmacht?

Nein, auf diese Idee bin ich nicht gekommen. Namen sind aber schon sehr wichtig. Bei diesem Roman habe ich lange gesucht. Ich wollte etwas Bodenständiges haben. Der Name ist in Island selten und darum speziell. Ich habe dann nachgeschaut, was er bedeutet, und bin auf zwei Sachen gestossen: Vom Englischen her bedeutet er wahrscheinlich «kleine Taube». Das passt doch wunderbar: harte Schale – weicher Kern. Im Ungarischen gibt es den Namen auch, dort heisst er «der Überlebende».

Hat er mit dem Kallmann-Syndrom in der Medizin zu tun, einer angeborenen Erkrankung der Keimdrüsen mit vermindertem bis fehlendem Geruchssinn als Leitsymptom bei der Namensgebung eine Rolle gespielt?

Wow! Nein, das wusste ich nicht. Aber auch das passt ja wunderbar! Meistens habe ich zu Beginn einige Namen zur Auswahl, und beim Schreiben reduziert es sich dann auf einen richtigen. Aber so schnell geklickt wie bei Kalmann hat es noch nie. Und siehe da, je mehr ich erfahre, desto besser passt er.

Als ich das Buch fertiggelesen habe, vermutete ich rasch, dass Du mit dem Namen Kalmann von Anfang an sagen wolltest, dass er zwar wie ein Kind daherkommt, aber im Grunde zum Mann bestimmt ist.

Ja, da ist schon so.

Damit sind wir bei der Kernfrage. Es ist offensichtlich, dass es neben dem Kriminalfall noch andere Themen gibt. Ist es überhaupt ein Krimi oder nicht eher eine Selbstfindungsgeschichte?

Ich weiss es nicht. Es hätte ein Krimi sein sollten. Bei Lesen merkt man dem Autor immer wieder an, dass er sich eben an seine Absicht erinnert hat, eigentlich einen Krimi schreiben zu wollen, und dass er Krimi-Elemente einstreut.

Mit der Zeit habe ich als Leser das Interesse an der Lösung des Kriminalfalles fast etwas verloren. Mich hat vielmehr interessiert, was nun aus Kalmann wird.

Genauso ist es auch mir als Autor gegangen. Ich wollte zuerst einen Krimi schreiben, habe aber im Schreibprozess diesen Kalmann liebgewonnen und viel mehr Interesse an ihm entwickelt. Den Krimi habe ich aber immer im Hinterkopf behalten, und auf das Finale im Stil eines Western-Duells habe ich schon hingearbeitet. Das Buch hiess übrigens lange «Kalmann und Mauser». Irgendwann merkte ich, dass es um Kalmann und nur um ihn geht. Darum steht nur sein Name im Titel; und darum auch darunter Roman und nicht Krimi. Es ist eigentlich ein Portrait mit Krimi-Elementen.

Also lernst du Deine Figuren erst beim Schreiben richtig kennen?

Ja, Kalmann hat sich bei Schreiben verselbstständigt. Am Anfang hatte ich diesen Kalmann als Figur, ja, aber was er am Schluss sein würde, wusste ich nicht, das kam erst nach und nach heraus. Ich finde dies eine wichtige Komponente beim Schreiben: dass man selber gespannt ist auf seine Figuren. Wenn einem eine Person als Autor langweilt, dann …

Dein Buch weist mit der Mafia-Geschichte und dem Dorfkönig und Krisengewinnler auch eine gesellschaftskritische Ebene auf. Wie wichtig ist sie Dir?

Ich streue sie ein. Ja, so was liest man in der Zeitung. Ich wollte, dass man aus einer anderen Perspektive auch auf etwas zeigen kann, wo die Isländer keine ganz weisse Weste haben.

Ich war allerdings etwas enttäuscht, denn ich dachte, mit der Mafia gäbe es dann einen grossen Showdown, dabei spielt sie dann letztendlich bei der Auflösung des Falls gar keine Rolle mehr.

Da bist Du nicht der Erste. Tatsächlich hat mich die Geschichte mit der Zeit nicht mehr so interessiert. Es gibt eigentlich genug Bücher, die das abhandeln. Im Übrigen wollte ich auch nicht auf die Litauer als mögliche Mafiosi in Island einschlagen.

Die «Verwandlung» von Kalmann geschieht sehr spät und ist nicht weiter ausgeführt. Wieso?

Am Schluss tritt er ja dem Eisbären entgegen, und er opfert sich in einem gewissen Sinn. Er liegt am Schluss unter dem Tier und verliert das Bewusstsein. Ein Gedanke war, Kalmann dort sterben zu lassen. Er hätte also gelebt, um die Dorfbevölkerung zu schützen und zu retten. Das war ein verlockender Gedanke. Ich habe es dann aber nicht übers Herz gebracht, ihn sterben zu lassen. So erlebt er eine Art Auferstehung. Dadurch ist diese Veränderung etwas abrupt ausgefallen. Dort findet tatsächlich ein Bruch statt. Er kommt ins Spital und bleibt dann in Akureyri, was für ihn eine Grossstadt ist. Bis der Eisbär kommt, war es für ihn immer schlimmer geworden, seine Freunde waren verschwunden, die Leute hatten sich an der Gemeindeversammlung über ihn lustig gemacht. Zu schnell fertig? Vielleicht. Aber die Geschichte war dort für mich einfach fertig.

Für mich wirkte das Ende ein wenig wie ein aufgesetztes Happy End.

Ja, das ist es in einem gewissen Sinn. Aber nicht die Geschichte brauchte ein Happy End, Kalmann brauchte eines. Das war mein Standpunkt. Er hat es verdient, wo er doch so viel durchmachen musste.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Emmanuele Jannibelli.

Joachim B. Schmidt: Kalmann. 352 Seiten. Zürich: Diogenes 2020, ca. 30 Franken.

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