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Die Nöte der Anderen

Alexandra

Ulrike Ulrichs neuer Roman «Während wir feiern» bringt die Abgründe einer Gesellschaft ans Licht, in der die einen Bowlen brauen und die anderen um ihre Existenz kämpfen.

Von Jana Bersorger
16. November 2020

Im Fokus von Ulrichs neuem Roman stehen zwei Figuren, deren Voraussetzungen und Lebensbedingungen disparater nicht sein könnten: Einerseits ist da die deutsche Sängerin Alexa, die bereits seit Jahren in der Schweiz lebt. Sie ist arriviert in der kreativen, linken Zürcher Mittelschicht, führt eine beschauliche Beziehung mit dem Arzt Adrian, und steckt mitten in den Vorbereitungen zur alljährlichen 1. August-Party auf der hauseigenen Dachterrasse. Was noch aussteht: Ihr Einbürgerungsentscheid. Solange kokettiert Alexa wohlig schaudernd mit der Sorge, schon vor der Einbürgerung aufgrund eines Gesetzverstosses ausgeschafft zu werden.

Andererseits ist da der junge Tunesier Kamal. Kamal ist in die Schweiz geflüchtet, nachdem er in seinem Herkunftsland aufgrund seiner Homosexualität festgenommen und misshandelt wurde. Und Kamal hat soeben einen negativen Aufenthaltsbescheid erhalten: Er muss ausreisen, sonst droht ihm die Ausschaffungshaft. Verzweifelt wendet er sich an seinen Deutschlehrer Zoltan. Zoltan, der sich heimlich in Kamal verliebt hat und ihn deswegen nicht zuhause bei Frau und Kindern unterbringen will, speist ihn mit Geld ab. Als Zoltan schliesslich den Einfall hat, Kamal bei seiner guten Freundin, der Sängerin Alexa, unterzubringen, ist Kamal unauffindbar.

Von bunten Bowlen und Notoperationen

Während Kamal durch Zürich irrt, sorgt sich Alexa. Sie sorgt sich, dass sie nicht rechtzeitig fertig wird, ob das Wetter hält, ob die Leute tanzen werden. Als Kamal während der Party einen Unfall hat und schliesslich schwerverletzt operiert wird, stellt sich die zentrale Frage des Romans: Kann man feiern, während andere ums Überleben kämpfen? Die Zürcher Yuppies in Ulrichs Gesellschaftsroman können es. Das Schockierende: Alexas Umfeld ist weder bildungsfern noch politisch uninteressiert – und schon gar nicht rechts. Es ist fortschrittlich und offen, manchmal rührend bemüht, oft aber auch peinlich selbstgerecht. Und hierin ist das Buch erstaunlich mutig, überschneidet sich die geschilderte «Bubble» doch nicht unwesentlich mit Ulrichs Adressat*innenkreis – also mit uns.

Zur Person

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt seit 2004 in Zürich. Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Kommunikationswissenschaft in Münster. Darauf arbeitete sie im Bereich der Computerlinguistik und an der Schule für Dichtung in Wien. Seit 2004 lebt Ulrich als freie Schriftstellerin in Zürich und schreibt Prosa, Lyrik, Hörspiele, Drehbücher und Kolumnen. Ausserdem fungiert sie als Herausgeberin von Anthologien, u.a. zum 60. und 70. Jubiläum der Menschenrechte. Ihr schriftstellerisches Debüt gab Ulrich 2010 mit dem Roman «fern bleiben». Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet, so mit dem Walter Serner-Preis (2010), dem Lilly-Ronchetti-Preis (2011) und Anerkennungspreisen der Stadt Zürich. «Während wir feiern» ist Ulrichs dritter Roman.
Foto: © Ute Schendel

Während wir feiern treibt die von der Wohlstandsmittelschicht gelebten Paradoxien schonungslos auf die Spitze. Die Leichtigkeit, mit der die Figuren über diese Konflikte hinweggehen, ist besonders frappierend. Durch die programmatische Zuspitzung wirken die meisten Figuren aber etwas dümmlich; viele nerven, kaum mag überraschen im Verlauf des Buches. Leider wirkt gerade diese hyperbolische Darstellung entschärfend: «So bin ich also gewiss nicht», kann man sich als Leser*in beruhigt sagen. Zugespitzt ist der Roman auch hinsichtlich der starken Präsenz des Politischen: Alles, was erzählt wird, ist politisch aufgeladen.

Temperierte Sozialkritik

Viele Topoi scheinen allerdings eher pflichtschuldig abgehakt, als tiefgründig verhandelt zu werden: Die Ärzt*innen im Triemli wettern über die Deutschen, die Kolleg*innen von Adrians Sohn sind homophob, rassistisch oder bei den Roten Falken, alle Schweizer*innen lieben das Guggisberglied. Wo Ulrich zu viele Klischees reproduziert und auch in puncto Lokalkolorit aus dem Übervollen schöpft, scheint die eigentliche Brutalität erstickt zu werden. Auch der Versuch, den Figuren eine eigene Stimme und Sprache zu verleihen, ist nicht überall gelungen. Gerade bei Adrians Sohn und seinen Freund*innen wäre weniger wohl mehr gewesen – der nachgeahmte Jugendslang klingt wenig authentisch. Dass Ulrich die Lesenden aber virtuos an den Gedanken diverser Figuren teilhaben lässt, ist unbestritten. Gerade die Übergänge sind sorgfältig und dennoch organisch gestaltet.

Dilemma um die Selbstgerechtigkeit

Ulrichs Roman könnte richtig wehtun: Just zwischen Masseneinwanderungs- und Durchsetzungsinitiative angesiedelt, zeichnet er ein Bild vom Kulturbürgertum, das zwar dezidiert Stellung gegen Rechtspopulismus und Rassismus bezieht, aber viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, um zu handeln. Es genügt ihm zu wissen, dass es auf der «richtigen» Seite steht. Mit dieser Spitze gegen selbstgerechte Passivität scheint Ulrich auch spezifische Kritik an der allgemeinen Schweizer Selbstwahrnehmung zu üben.

Auffällig ist auch, wie wenig Raum Kamal und wie viel dagegen die westlich-liberale Partygesellschaft erhält. Diese Gewichtung wirft einerseits die Frage nach der Erfahr- und Darstellbarkeit von Erlebniswelten ausgegrenzter Menschen auf, hinterlässt andererseits aber auch einen etwas bitteren Nachgeschmack: Die Figur Kamals scheint auf den blossen Zweck reduziert, Kritik am wohlstandsgesättigten, links-urbanen Milieu zu üben. So wird wiederum primär die eigene, «schöne Seite» beleuchtet – und damit droht sich der Roman letztlich selbst den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit zuzuziehen, den er auch seinen Protagonist*innen macht. Damit begibt sich der Roman in eine schwer vermeidbare Zwickmühle, die man der Autorin eigentlich nicht vorwerfen möchte bei ihrem scharfen Blick und dem gewieften Figurenarrangement. Trotzdem bleibt Während wir feiern etwas oberflächlich, etwas überzeichnet, etwas zwiespältig. Das ist schade – gerade weil er das luzide Potential eines gleichsam genialen wie grausamen Romans birgt.

Ulrike Ulrich: Während wir feiern. 272 Seiten. Berlin: Berlin Verlag 2020, ca. 28 Franken.

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