„Eine Gegend für Schlösser“

Eben noch hat Judith Schalansky von ihrem aufgegebenen Projekt eines Ungeheuer-Buchs erzählt – die menschliche Fantasie hatte sich gegenüber der Formenvielfalt der Evolution kümmerlich unterlegen gezeigt – , da setzt Sabine Gisin im Stadttheater mit einer eben solchen Sagenwelt ein. Die Leere sei das Schlimmste, darin sind sich die arrivierte Autorin und die Debütantin einig. Was seien schon ein paar Mischwesen mit faltiger Flügelhaut gegen den horror vacui?

In Sabine Gisins erstem Roman mit dem kryptischen Titel Teneber vid trägt das schlimmste Ungeheuer in der selbstgemachten Sagenwelt des Vaters der Hauptfigur eben diesen Namen. Am schlimmsten deshalb, weil es die Leere verkörpert, die alles einzusaugen droht. Benennung schafft Halt, ebenso der alleinerziehende Vater: Zeltend am Fluss, kochend am Feuer, Steinskulpturen bauend, deren Passung seine erfahrenen Hände erspüren.

Diese archaische, aber vertraute Welt, die an Gisins Verlagskollegin Noëmi Lerch erinnert, ist Geschichte, als das namenlose „Mädchen“ seinen Gang in die „Stadt“ antritt. Auf dem Weg zum „Schloss“ wird es von einem Mann auf der Herrentoilette sexuell missbraucht, ohne das Geschehen anders als phänomenologisch deuten zu können. In der Folge entwickelt sich eine éducation sentimentale, die zwischen den drei Codes des Märchenhaften, des Surrealen und einer artifiziellen, aber grundsätzlich aufs Realistische zielenden Kinderperspektive changiert. Viertens und nicht ganz zwingend schalten sich gelegentlich metasprachliche „Splitter“ dazwischen.

Das mag den einen oder die anderen an einen riskanten Zwitter aus Julia Webers und Michelle Steinbecks  vielbeachteten Debütromanen erinnern, doch findet Sabine Gisin, die lang und unbeirrt liest, mit zunehmender Textdauer zu einer sehr eigenen Erzählstimme. Dass es ihr dabei zugleich um poetische Funken und hermeneutische Komplexität geht, scheint einige Zuhörerinnen und Zuhörer zu überfordern und stellt tatsächlich ein Wagnis des Textes da: Die zunehmend auf die Perspektive des Mädchens zugeschriebene Handlung lebt von der Spannung zwischen den von struktureller und sexueller Gewalt geprägten Widerfahrnissen und den staunend-poetischen Reaktionen des Mädchens: „Meine Läden sollen weit offen sein.“

Der einst genuin literarischen Aufgabe, im Schönen des Schrecklichen Anfang und vice versa durchscheinen zu sehen, muss man sich hier als Leserin, als Leser schon stellen wollen. Wird das Buchjahr in Kürze und in aller Ausführlichkeit tun. Wer Sabine Gisin unterdessen als psychologisch und poetologisch versierte junge Autorin kennenlernen will, kann gerne auch mit ihrer formvollendeten Kurzgeschichte „Bob“ einsteigen. Die trug sie vor einigen Jahren beim renommierten Berliner „Open Mike“ vor, und zumindest ich habe seitdem auf weitere Texte gewartet. On verra, wir bleiben dran.

Im Präsens

Solothurn spielt in Ruth Schweikerts neuem Roman „Tage wie Hunde“ zwei prominente Rollen und eine wichtige. Während der Filmtage 2016 ertastet die Zürcher Autorin zum ersten Mal den Knoten in der Brust, der sich schon bald als aggressivste Form von Krebs herausstellen wird. Gut zwei Jahre später wird sie, auf dem Weg zur Genesung, den Solothurner Literaturpreis entgegennehmen. Zwei prominente Wendepunkte, von denen an diesem Freitag im vollen Landhaussaal nur am Rande die Rede ist. Aus den in sieben bangen Tagen, einer Erschöpfungsgeschichte also, erzählten Reflexionen ihrer Krankheit hat Ruth Schweikert vor allem Szenen ausgewählt, die an Rilkes Diktum vom grossen, mitten unter uns wohnenden Tod gemahnen. Als Schatten fällt er auf den Besuch in der geliebten Trattoria im Arbeiterquartier, auf das  nächtliche Zusammensein im Atelier des Mannes, den Besuch der Familie im Sanatorium. Als grelle Fratze blitzt er auf im ambivalenten Gefühl, im übergriffigen Verhalten eines Busfahrers oder dem Gefallenwollen gegenüber einem behandelnden Arzt doch „das eigene verloren geglaubte Begehren als Zukunftsversprechen“ zu spüren.

Ruth Schweikert liest kraftvoll, steuert zielsicher die in eine erhellende Konstellation tretenden Textstellen an, lässt auch durchscheinen, dass ihr sehr persönliches, in fast zweieinhalb Jahren komponiertes Buch auch andere Seiten hat. Ihrer „Meditation über die Sterblichkeit“ sei auch das Unbehagen darüber eingeschrieben, mit Bekanntwerden der Diagnose auf die Rolle der Kranken festgelegt zu werden. Die Sprünge, das lustvolle Verweilen am Detail, der streunende, nicht nur an den Krankengeschichten anderer Betroffener Halt suchende Erzählgestus erscheinen vor diesem Hintergrund als ebenso überzeugende poetologische wie lebensnotwendige Strategie. Bedeutsam auch die Einsicht, weder der allzu stringenten Deutung der „Krankheit als Metapher“ noch dem nichtssagenden Deutungsverbot der Postmoderne aufsitzen zu wollen. Bezüge sind da, etwa zum stets um Stärke ringenden Vater, zur Scham als gesellschaftlich forcierter Schrumpfvariante der Schuld, zum Imperativ der Selbstoptimierung, zur eigenen sozialen und künstlerischen Rolle. Die Konstellation, die daraus entstehen könnte, ist allerdings keineswegs „da“, sondern erst noch, durchaus tastend, Sackgassen in Kauf nehmend, zu erschreiben.

Die erstmalige Wahl des Präsens erscheint da nur logisch. Unter Schmerzen zwar, aber notwendigerweise wird das „geliebte Imperfekt“ preisgegeben. Kein blosses Erinnerungsbuch habe sie schreiben wollen, so Schweikert, sondern die „Vergegenwärtigung als Nachdenken über die blosse Erinnerung hinaus“ habe das Projekt vorangetrieben. Das Ergebnis ist offener und fragiler, teils auch härter und fassungsloser als das an diesem Abend Vorgetragene.

Das führt zur dritten, scheinbar marginalen Solothurn-Episode des Buches. Von einer ebenfalls rekonvaleszenten Freundin lesen wird dort, ganz am Rande, die bedauernde, aber unmissverständliche Notiz, Solothurn sei ihr derzeit „noch zuviel“. Gefolgt von einer Einladung zum Abendessen im kleineren Rahmen.  Ruth Schweikert war und ist Solothurn, wie diese erfreuliche Rückkehr zeigte, nicht zuviel. Und so demonstriert gerade das, was an diesem Abend vom Buch nicht auf die Bühne zu bringen war, aufs Schönste die zwei Seiten gelungener Literatur: Ihrer geselligen, festlichen Seite ist immer schon ex negativo ein „Zuviel“ eingeschrieben, das des kleineren Rahmens der Lektüre bedarf. Die lange Schlange am Büchertisch liess darauf schliessen, dass auch diese Botschaft angekommen war.