KW23

«Man kann Realität gar nicht authentisch abbilden». Gespräch mit Julia von Lucadou

Bärfuss Mora

Mit «Die Hochhausspringerin» betrat Julia von Lucadou im vergangenen Jahr die Bühne der literarischen Öffentlichkeit. Loreen Dalski hat die Autorin am Rande der Solothurner Literaturtage getroffen und mit ihr über Dystopien, Selbstoptimierung und Körperlichkeit gesprochen.

Von Loreen Dalski
6. Juni 2019

Julia, du hast selbst mit deinem Roman die «Die Hochhausspringerin» ein erfolgreiches Exempel für dystopisches Schreiben geliefert und bist auf diesen Solothurner Literaturtagen prädestiniert dafür, über Dystopien zu sprechen. Worin siehst du den Reiz und die Anziehungskraft des Genres?

Ich finde, es ist ein grandioses Vehikel, um kritisch die Gegenwart zu reflektieren und bestimmte Entwicklungen zu Ende zu denken. In meinem Buch gibt es zwei Hauptansätze bzw. große Themen: einmal die Selbstoptimierung und der Leistungsdruck und das andere ist die Totalüberwachung, d.h. die Invasion der Privatsphäre. Das sind zwei Themen, die mich gegenwärtig sehr beschäftigen.

Zur Autorin

Julia von Lucadou, geboren 1982 in Heidelberg, lebt in Lausanne, New York und Köln. Sie ist promovierte Filwissenschafterin, war als Regieassistentin und Fernsehredakteurin tätig und studierte am Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Die Hochhausspringerin» wurde sie 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis honoriert. «Tick Tack» ist von Lucadous zweiter Roman.
Foto: © by Werner Christian

Die Dystopie ist eine Form, in der ich mir selbst über diese Entwicklungen klarer werden kann. Sie bringt eine gewisse Distanz zur gegenwärtigen Gesellschaft, die notwendig ist, um reflektieren zu können. Im naturalistischen Schreiben fühle ich mich nicht so wohl, weil mir hier der reflexive Raum fehlt.

«‹Black Mirror› ist durchaus eine Inspirationsquelle»

Nun hast du bereits einen historischen Kontext eröffnet und dein Schreiben von anderen Formen abgegrenzt. Worin unterscheidet sich deine Dystopie, oder allgemeiner, worin unterscheiden sich gegenwärtige Dystopien zu ihren historischen Vorgängern?

Da ich keine Literaturwissenschaftlerin und eine laienhafte Leserin bin, kann ich das systematisch oder historisch schwer fassen. Ich kann aber sagen, dass Dystopien, deren Entstehung zwanzig, dreissig Jahre zurückliegt, jetzt immer noch interessant sind. Es verbindet uns auf jeden Fall etwas mit den Vorgängern. Margaret Atwood, eine Schriftstellerin, die ich sehr bewundere, wird gerade in aktuellen Genderdiskursen und der Me-Too-Debatte oft zitiert. Es gibt bei Protesten Plakate mit Zitaten aus The Handmaid’s Tale oder es werden die Roben aus der Verfilmung auf Demonstrationen angezogen. Ebenso wird 1984 von Orwell immer wieder zitiert und «Big Brother» ist mittlerweile sogar ein stehender Begriff geworden. Ich hoffe, dass auch die gegenwärtigen Dystopien in 20 Jahren relevant sein werden.

Sind Dystopien dann eher zeitlose Formen, die auf universale menschliche Ängste und Bedürfnisse reagieren? Oder sind sie im besonderen Maße zeitgebunden, da sie auf historische Umstände literarisch antworten?

Der Inhalt schon, aber die Form der Dystopie hat, denke ich, nichts mit der Gegenwart zu tun. In meinem Roman hat sich die Form auf natürlichem Weg entwickelt, aus meinem Gefühl zur Gegenwart, aus meinem kritischen Bewusstsein heraus, aus dem Gefühl, ich möchte reflektieren und kommentieren können. Die Formierung des Diskurses anhand einer Zuspitzung vorhandener Tendenzen ist zeitübergreifend. Das war damals eine valide Form, das ist heute eine valide Form und das wird vermutlich auch in 30 Jahren so sein.

Du bist promovierte Filmwissenschaftlerin und hast bereits die Verfilmung von «The Handmaid’s Tale» angesprochen. Mich hat dein Roman u.a. stark. an die Folge «Nosedive» aus der Serie «Black Mirror» erinnert. Welchen Einfluss haben Filme auf dein Schreiben? Gab es für deinen Roman filmische Inspirationsquellen?

Das visuelle Erzählen spielt in meinem Leben eine grosse Rolle. Ich habe selbst beim Film gearbeitet, über Film meine Dissertation geschrieben und mich während des Studiums viel mit dem Medium auseinandergesetzt. Das mag auch ein Grund dafür sein, dass sich mein Roman einer Art «filmischen Schreibens» bedient. Es ist ein sehr moderner Erzählstil – es gibt ihn ja noch nicht allzu lange – der gut zu unserer Welt passt. Die Serienform, bspw. «Black Mirror», hat viel mit unserer Gegenwart zu tun, mit der Art, wie wir unsere Welt wahrnehmen, und mit ihr umgehen. Das spielt eine große Rolle in der Ästhetik und «Black Mirror» ist durchaus eine Inspirationsquelle. Da wird etwas erzählt, was ich gut nachvollziehen kann und auf eine Art, mit der ich mich identifizieren kann. Man sieht das politische Engagement hinter dieser Kunst.

Was unterscheidet die literarische Thematisierung von der Verfilmung? Anders gefragt, was sind die spezifisch literarischen Potentiale in der Darstellung dystopischer Szenarien?

Im Falle meines Buches gibt es vielleicht auch eine biografische Motivation. Nach meiner Arbeit beim Fernsehen wollte ich mich klar von diesem Betrieb und seinem Leistungsdenken absetzen. Das, was ich im Buch thematisiere – die freiwillige Ausbeutung im Kontext der Leistungsgesellschaft und Unternehmen, die kein Interesse an ihren Mitarbeitern haben, außer ein rein finanzielles – ist etwas, was ich dort erlebt habe. Ich musste ein anderes Medium wählen, um mich davon zu distanzieren.

Der andere Grund ist natürlich, dass die Literatur viel mehr Freiheiten bietet als der Film. Im Film und Fernsehen liefert man alles mit: Bild, Ton, Text und sogar die Interpretationen des Dialogs. Alles ist vorgegeben. In der Literatur bleiben Leerstellen, Ambivalenzen, Lücken. Und der Leser vervollständigt diese Leerstellen im Kopf. Die Literatur gibt die Welt nicht klar vor, malt sie nicht vollständig aus und ist dadurch weniger restriktiv in der Rezeption. Ich glaube, sie erreicht eine größere Identifikation, indem man seine eigenen Bilder und Erfahrungen in den Text hineinsetzt und ihn so auf die eigene Welt bezieht.

«Im Dokumentarischen täuscht man Realität vor, in der Fiktion spielt man mit offenen Karten»

In deinem Roman ist es ein Blogger, der bei deiner Protagonistin Riva das Gefühl von Authentizität weckt, obwohl das Internet in deinem Roman besonders kritisch wahrgenommen wird. Gibt es Medien der Authentizität, oder eine literarische Authentizität?

Authentizität hat eigentlich nichts mit dem Medium zu tun, sondern mehr mit der Person, die das Medium betreibt oder ausfüllt. Bei meiner dokumentarischen Arbeit im Fernsehen hatte ich oft ein Gefühl von Unauthentizität. Dort wird vorgegeben, die Realität abzubilden, und zwar eins zu eins. In Wirklichkeit greift man aber als Redakteurin ganz stark ein, indem man bestimmte Momente auswählt, sie zusammenschneidet, mit Musik unterlegt etc. Und so wird die Realität zu einer anderen als sie es ursprünglich war. Man kann Realität gar nicht authentisch abbilden. Über Fiktion, also klar ausgewiesene Überformung, kommt man der Authentizität vermutlich näher, weil man dem Leser die Transferleistung überlässt. Er ist derjenige, der entscheiden muss, ob er es für wahr hält oder nicht. Im Dokumentarischen täuscht man Realität vor, in der Fiktion spielt man mit offenen Karten.

Ist Kunst dann in ihrem bekennenden Verzicht auf Wahrheit per se eine moralischere Instanz?

Ich habe ein großes Problem mit der Bezeichnung moralische Instanz und kann mich damit als Autorin nicht in Verbindung bringen. Das hat etwas Brecht’sches. Nach dem Motto: Ich erkläre die Welt und erziehe dich, weil du nicht alleine fähig bist, auf diese Gedanken zu kommen. Oder: Ich muss alles verfremden, damit du die kritische Distanz aufbauen kannst. Das ist schlicht überheblich.

Ich sehe mich eher als Mitspielerin und meine Leser als gleichwertige Mitspieler, die auch Dinge aus dem Roman lesen können, die mir gar nicht bewusst waren. Trotzdem ist im Hinterfragen der bestehenden Verhältnisse, das hinter den literarischen Darstellungen steckt, natürlich eine Instanz zu erkennen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob eine moralische: Es ist eher eine Meinung oder eine kritische Wahrnehmung der Welt.

«Scham empfinde ich als besonders weibliches Problem»

Aktuell gibt es eine breite gesellschaftliche Aufwertung von Figuren des Defizitären wie dem Fehler oder dem Scheitern. Sie werden oft öffentlich etwa auf den Fuckup Nights emphatisch gefeiert, z. B. als Möglichkeit des Lernens, der Erkenntnis und des Fortschrittes. Auch in deinem Roman versuchen immer wieder Figuren Rivas Krise als Chance zu interpretieren. Das Scheitern und Unglücklichsein hat in der Welt des Romans keinen Platz. Dein Roman scheint wie eine Bestätigung Pascal Bruckners These, dass wir zum Glück verdammt sind. Leidet die Gegenwart unter falschen oder zwanghaften Glücksvorstellungen?

Ja, es trifft durchaus zu, dass wir unter falschen Glücksvorstellungen leiden. Grund hierfür ist der Perfektionismus: Ein Streben nach einem Bild von Glück, das nicht erreichbar und unrealistisch ist.

Du siehst Perfektionismus also in einem engen Verhältnis zum Glück?

Ja, es gibt einen Perfektionismus in Bezug auf das Glück. Im Roman bekommen die Figuren Glückstrainings verordnet, die direkt in den Optimierungsgedanken integriert sind. Das ist auf den Fuckup Nights wahrscheinlich auch der Fall. Das Scheitern an sich ist großartig. Auch im Roman sind Fehler und Brüche wichtig, aber sobald man das Scheitern zum Ideal oder zu einem Wettbewerb macht, wird es problematisch. Sobald ein Scheitern performt wird und alle ein Loblied darauf singen, ist es kein echtes Scheitern. Denn dann ist es ja bereits schon wieder ein «Erfolg». Echtes Scheitern geschieht nicht auf der Bühne, sondern eher im Stillen und Abgründigen.

Im Zentrum deines Romans stehen zwei weibliche Figuren, die in enger Verbindung zum Scheitern stehen? Zeigt sich weibliches Scheitern anders als männliches?

Grundsätzlich scheitern Männer nicht anders als Frauen, aber der Unterschied liegt in der Außenwahrnehmung. Ich habe gerade ein Buch von einer amerikanischen Autorin gelesen, die über ihren eigenen Alkoholismus geschrieben hat und beschreibt wie verschieden Alkoholismus und Sucht bei Frauen und Männern interpretiert wird. Männliche, «grosse», Autoren werden dafür zelebriert, dass sie Alkoholiker sind, und ihre Romane werden als Erfolge verbucht, während weibliche Autorinnen, die über ihren Alkoholismus schreiben, als schwach, fehlerhaft und Versagerin gewertet werden.

Bei deiner Figur Hitomi spielt gerade in Bezug auf das Scheitern die Scham eine große Rolle. Siehst du Scham als eine Empfindung, die gesellschaftliches Handeln stark bestimmt?

Darüber müsste ich mir noch einmal länger Gedanken machen. Scham empfinde ich als besonders weibliches Problem. Frauen wird früh beigebracht, sich für Ihre Fehlerhaftigkeit und ihre Schwächen zu schämen. Es ist sozusagen anerzogen. Scham wird produziert vom Leistungsdenken. Wenn man in einem System lebt, in dem das Funktionieren zum obersten Gebot erhoben wurde, dann bringt das Scheitern enorm viel Scham mit sich – vor allem, wenn es wie bei Hitomi um Kontrollverluste geht.

«Das Nichts-Tun ist als genussreiche Zeit bedroht»

Der Name deiner Figur Hitomi kommt aus dem Japanischen und bedeutet übersetzt bezeichnenderweise das Auge, die Pupille? Wie kommt es, dass gerade diejenige, die Riva überwacht und wieder zur alten Leistung verhelfen soll, einen japanischen Namen trägt? Hast du einen besonderen Zugang zu japanischer Kultur?

Das Schöne an der Literatur ist, dass sie sich nicht komplett kontrollieren lässt. Ich habe mir vorher kein Konzept geschrieben und einige Dinge haben sich von selbst entwickelt, so auch der japanische Name. Ich war einmal mit einem Japaner zusammen und habe zeitweilig in Vancouver gelebt, wo die japanische Kultur sehr präsent ist. Im Kontext des Buches war diese Kultur besonders faszinierend, denn ich erlebte dort eine hohe Arbeitsethik, noch ausgeprägter als in Deutschland oder der Schweiz. Es gibt sogar einen eigenen Begriff für den Tod durch Überarbeitung und einen für Menschen, die in absoluter sozialer Isolation nur noch vor ihrem Bildschirm leben. Phänomene, die uns zukünftig vorkommen, aber dort schon Realität sind – und das ist in den Roman eingeflossen. Allerdings tragen die Figuren Namen ganz verschiedener Herkunft und es war mir wichtig, keine kulturspezifische Gesellschaft, sondern ein globales Problem darzustellen.

Im Roman taucht die Langeweile, als leere ungefüllte Zeit, immer wieder als Störfaktor im System auf. Empfindest du Langeweile als ein bedrohtes Gut?

Ich verbinde mit Langeweile nichts Positives, weil es ein Leid im Nichts-Tun impliziert. Allerdings ist das Nichts-Tun, also die Nichtproduktivität, als genussreiche Zeit bedroht. Es gibt kaum Räume, in denen man bloß existieren kann, ohne dass ein Output geliefert werden muss.

Zur Autorin

Julia von Lucadou, geboren 1982 in Heidelberg, lebt in Lausanne, New York und Köln. Sie ist promovierte Filwissenschafterin, war als Regieassistentin und Fernsehredakteurin tätig und studierte am Literaturinstitut in Biel. Mit ihrem Debütroman «Die Hochhausspringerin» wurde sie 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis honoriert. «Tick Tack» ist von Lucadous zweiter Roman.
Foto: © by Werner Christian

Könnte die Langeweile dann als existenzielle Grundstimmung betrachtet werden, in der die Erkenntnis einsetzt, dass mit dem eigenen Leben etwas grundsätzlich nicht stimmt?

Also im Sinne einer Art psychosomatischer Reaktion auf eine ungesunde Lebenswelt und Lebenseinstellung? So könnte man das vielleicht sagen.

Der Diskurs um Selbstoptimierung wird aktuell sehr polarisierend geführt. Einerseits gibt es eine große Emphase, wie an der inflationären Ratgeberlektüre deutlich wird, und andererseits gibt es eine massive Ablehnung, die sich mit der Kritik an der Leistungsgesellschaft verbindet. In deinem Roman fragst du nach einem gesunden Verhältnis zu Optimierungsprozessen. Wie sieht ein gesundes Verhältnis aus?

Natürlich ist es gut, dass wir dazu lernen, uns verbessern oder uns um unsere Körper sorgen. Ich plädiere nicht dafür, sich wie Riva auf den Boden zu setzen und nichts mehr zu tun. Ihre Reaktion ist Überforderung und Hilflosigkeit auf den Leistungsdruck. Eine gesunde Einstellung ist wahrscheinlich irgendwo in der Mitte, d.h. Neugier und Motivation zu lernen, sich zu verbessern, verbunden mit dem Bewusstsein, dass Körper und Seele auch Ruhepausen und Freiräume brauchen und dass man die persönliche Weiterentwicklung nicht reglementieren und kontrollieren sollte. Den Begriff Selbstoptimierung verbinde ich in jedem Fall eher mit etwas Negativem, mit Vermarktung und Wirtschaft. Mit Selbstoptimierung kann man gerade sehr viel Geld machen, da geht es nicht primär darum, Menschen zu helfen. Ich sehe einen gesellschaftlichen Trend darin, die Dinge, die uns guttun, so ins Leistungsdenken zu integrieren, dass sie uns schaden. Das sieht man auch im Roman. Meditation ist eine super Sache, die uns hilft, uns selbst wahrzunehmen oder zu entspannen. Wenn allerdings das Handy ständig an die Meditation erinnert und der Chef überwacht, ob man gut meditiert hat, dann verliert die ursprünglich gute Praktik ihre Wirkung.

«Es ist entscheidend, dass die Analyse der Figuren ausbleibt»

Du kommst ursprünglich selbst aus der Wissenschaft und stellst sie im Roman sehr prekär dar. Sie liefert den ökonomischen Akteuren die Handlungsgrundlagen. Siehst du gegenwärtig die Wissenschaft im Kontext der Selbstoptimierung in einer besonderen Rolle und Verantwortung?

Ob sich das Verantwortungsgefühl der Wissenschaft verändert hat, weiß ich nicht genau, aber sie hat vielleicht die Verantwortung zu sehr abgegeben. Zu viele Studien werden von der Wirtschaft bezahlt, das finde ich nicht okay. Es müsste eine klare Trennung geben. Auch Journalismus lässt sich zum Teil nicht mehr von Werbung trennen, man nennt das «Native Advertising». Dasselbe gilt für wissenschaftliche Artikel. Im Buch zeigt sich dies an den sogenannten «White Papers». Nach einer Weiterbildung in der Unternehmenskommunikation war ich ganz verblüfft, dass es Begriffe dafür gibt, wie man gezielt Werbung in die Wissenschaft einschleust. Beides darf sich auf keinen Fall überschneiden, denn Wissenschaft hat die Aufgabe von Aufklärung und von ehrlicher Analyse, die nicht mit der Marktwirtschaft vermischt werden dürfen.

Im Roman nimmt die Psychologie einen großen Stellenwert ein. Die Figuren psychologisieren sich permanent gegenseitig und immer wieder liefert der Roman Rekurse auf problematische Kindheitserlebnisse. Ist die Verbindung von Literatur und Psychologie für dich besonders relevant um Gesellschaft zu verstehen?

Die Verbindung ist absolut naheliegend, weil die Literatur immer eine Beschäftigung mit dem Menschsein ist und die Wissenschaft, die sich mit dem Menschsein am meisten beschäftigt, und überlegt, was uns als Menschen ausmacht, was unser Verhalten bestimmt, ist die Psychologie. Außerdem bin ich in einem Psychologenhaushalt aufgewachsen. Meine Eltern sind beide Psychologen und ich habe schon in der frühen Kindheit psychologische Fachliteratur gelesen und finde sie bis heute unheimlich spannend. Mir ist aber dennoch wichtig, dass der Text nicht psychologisierend ist. So werden die psychologischen Analysen im Roman ständig verworfen, zum Beispiel als Hitomis Chef sagt, es gäbe kein Burnout mehr, dies sei veraltet. Es ist entscheidend, dass eine Analyse der Figuren ausbleibt. Sie bleibt dem Leser überlassen.

«Ironischerweise kommt es in der Diskriminierung des Körpers langsam zur Gleichberechtigung»

Im Zeichen der Digitalisierung akzentuiert dein Roman die große Relevanz von Körperlichkeit: Diese erscheint ambivalent, als Körpersehnsucht einerseits und als Körperfeindlichkeit andererseits. Deutet dein Roman eher eine Zukunft der Auf- oder Abwertung des Körpers an?

Eindeutig eine Abwertung des Körpers. Selbst der Körperkult ist nichts Anderes als eine Entwertung. Denn hier ist das Bild, was vom Körper vermittelt wird, meistens ein ganz unrealistisches, eines, was nicht existiert und oft nur durch Bildbearbeitung zustande kommt. Dieses vermeintlich perfekte Bild vermittelt dem Betrachter: dein Körper ist im Vergleich schlecht, scheiße, hässlich, nicht fit genug. Besonders schlimm finde ich persönlich das damit verbundene Fat Shaming, also die Ablehnung eines Körpers, der als zu dick, überschüssig wahrgenommen wird. Warum wird geleugnet, dass es naturbedingt unterschiedliche Arten von Körpern gibt? Es ist überhaupt nicht machbar, alle Körper gleich aussehen zu lassen. Und auch nicht wünschenswert.

Ist dies ein geschlechterspezifisches Problem? In deinem Roman steht vor allem die Inszenierung des weiblichen, perfekten Körpers im Fokus.

Ironischerweise kommt es in der Diskriminierung des Körpers langsam zur Gleichberechtigung – im Gegensatz zu vielen anderen Bereichen. Das heißt: Mittlerweile werden auch Männer für Ihre Körper verachtet. Ist es nicht wunderbar, wie wir uns im Negativen und nicht im Positiven an die Gleichheit heranarbeiten? (lacht) Trotzdem würde ich sagen, dass der weibliche Körper grundsätzlich immer noch häufiger angegriffen wird als der männliche.

Das Gespräch führte Loreen Dalski.

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin. 288 Seiten. Berlin: Carl Hanser Verlag 2018, ca. 29 Franken.

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