KW22

Plappern aus Weltflucht

Bärfuss Mora

In seinem Coming-of-Age-Debüt wagt Demian Lienhard eine verheissungsvolle Verflechtung von Psychogramm und Milieustudie, deren Reüssieren durch die umfangreiche Länge des Romans vereitelt wird.

Von Marco Neuhaus
30. Mai 2019

Demian Lienhards erster Roman Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat spielt in der spannungsreichen Zeit der Zürcher Jugendunruhen der 1980er-Jahre, in der tristen Schweizer Dorf- und Kleinstadtwelt und im wilden Autonomen Jugendzentrum. Aber das tut gar nicht so viel zur Sache. Zeitgeschichte ist hier über weite Strecken Kulisse. Man hört Schawinskis Radio, es werden Pflastersteine geworfen und irgendwann wird auch einmal Space Invaders erwähnt. Mehrheitlich spielt der Roman jedoch im Kopf der monologisierenden, unzuverlässigen Ich-Erzählerin Alba. Gelegentlich will Lienhard dann aber historischen Kontext nachliefern. Das tönt dann, etwa in einem Tischgespräch zwischen Albas Freund René, genannt Jack, und dessen Mutter, so: «Natürlich wirfst du Steine. Vor dem Opernhaus letztes Jahr hast du Steine geworfen und vor dem AJZ hast du Steine geworfen im September und dann am Helvetiaplatz.»

Diese Art, geschichtliches Wissen in Form von ein paar Eckdaten zu vermitteln, wurde beispielsweise in der Biopic-Parodie Walk Hard nachhaltig verhohnepiepelt. Dort dürfen Figuren in den Sechzigerjahren auch Sachen sagen wie: «The Sixties are an important and exciting time!» Solche Schemenhaftigkeit versucht Lienhard auch auf andere Arten auszugleichen, beispielsweise durch Ausführlichkeit in Blöcken. Auch die länglichsten Schilderungen einer Tramfahrt oder eines Schulalltags vermögen es aber nicht, der Detailfülle Plastizität abzutrotzen, solange das Auge fürs Prägnante fehlt. 

Zum Autor

Demian Lienhard, geboren 1987 in Baden (CH), promovierte in Klassischer Archäologie in Köln und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Für seine unveröffentlichten Texte erhielt Lienhard bereits zahlreiche Stipendien und Preise (u.a. das «Schwazer Stadtschreiber»-Stipendium) und wurde zweimal Finalist am «open mike» in Berlin. «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» ist sein Romandebüt.
Foto: © Laura J. Gerlach

Anschaulich zu erzählen beginnt Lienhard erst, als Alba anfängt, Heroin zu nehmen und in der Platzspitz-Szene verschwindet. Hier demonstriert er endlich ein Sensorium für Zeit und Ort und ein Interesse daran, was seine Heldin sieht, wenn sie die Augen aufmacht. Das hat den eigentümlichen Effekt, dass Alba erst als Junkie luzide wirkt. Hier demonstriert Lienhard, dass er ein vielversprechender Autor ist, dass er die verschiedensten Register beherrscht, von fast beiläufig eingestreuter Tragikomik bis zum konfrontativen Horror. Man ahnt in den fast 400 Seiten von Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat die Konturen einer mitreissenden, vielleicht brillanten Erzählung, die hätte entstehen können, wenn irgendwer den Mut, oder wahlweise die Disziplin oder die Bescheidenheit, gehabt hätte, den Roman auf ein Viertel seines Umfangs zu kürzen. 

Das strukturelle Problem dieses Romans ist, dass der Spagat zwischen einem Psychogramm einer unbedingt introvertierten Erzählerin und einer Milieustudie nicht so gut aufgeht, wie er müsste. Was spannungsreich hätte werden können, ist häufig unausgewogen. Das ist schade, denn der Autor hat seine Figur bis ins Detail ausgearbeitet. Sie hat ihren eigenen Sound: «Sonst liegen wir am Strand herum und in unserem Zimmer, Jack und ich, wir essen Crevetten zu jeder erdenklichen Tageszeit und ab und an fahren wir auch ins Hinterland, alte Ruinen schauen wir uns an und Steinhaufen und dann auch so eine etruskische Totenstadt.»

Das ist mit genauem Blick aufs mündlich Unfertige gezielt, auf etwas Noch-Nicht-Erstarrtes, das sich im Fluss der Sätze und der Wortstellung niederschlägt. Ganz neu ist es nicht. Bei Irmgard Keun durfte das 1932 schon so gehen: «Aber seit heute morgen wussten alle von Leo und mir – da kniff mich keiner mehr. Sie schlugen nur noch weite und nahe Bogen und taten Bildung in ihre Sprache mit mir. Auch der Mönch.» Diese ungenierte, spielerisch unfromme Flapsigkeit – dieser Wille, noch mit der Syntax alles Mögliche zu machen, wofür sie einen nicht abstrafen konnte – suchte dort nach Freiräumen in einer repressiven Welt. Ein solches Auge fürs Soziologische zeigt Lienhards Roman selten. Nachdem sich innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Dreivierteljahr drei Jugendliche aus Albas Klasse von einer Brücke stürzen, meint diese: «Ganz schön viele Tote auf einmal, könnte man jetzt denken, aber das denke ich nicht. Im Tal, aus dem ich komme, ist das normal.»

Da wüsste man schon gerne etwas mehr darüber, zumindest solange Suizidraten nicht einfach effekthascherisch als Vorwand für den interessanten Knacks der Heldin herhalten sollen. Schade, dass dieses Tal kein Kolorit hat. Die suizidalen Neigungen, die irgendwie dort vorherrschen, haben kaum Tiefe. Sie sind nur dunkle Farbtupfer und bilden eine ort-, zeit- und letztendlich gegenstandslose Wolke der Negativität, die ohne feststellbare Gründe aargauische Gemüter ruiniert. 

Aber auch solche Einwände gehen wohl an der Hauptsache vorbei. Alba Doppler, die Figur, der Autor Lienhard sein Buch widmet, plappert aus Weltflucht. Sie erzählt von Scampi oder Chemieprüfungen meistens, wenn die Geschichte eh auf etwas anderes hinauslaufen soll. So stellt sich etwa ein Exkurs über Polenta ganz am Schluss als die Geschichte eines Suizids heraus. Diese Einsicht in die Mechanismen, mit denen Sprache überdecken oder verschieben kann, was eigentlich zu sagen wäre, ist interessant, aber nicht originell genug, um derart inflationär eingesetzt zu werden. Man gewöhnt sich an Alba, aber hätte man sie nicht liebgewinnen sollen? Wiederum: Kürzung wäre geboten gewesen.

An Originalität fehlt es auch den Sprachbildern: Wenn hier die Hände tatsächlich auf der Bettdecke liegen wie «rückwärts eingeparkte Autos», dann ist das weniger originell als aggressiv am Gegenstand vorbei bebildert. Daran zeigt sich spätestens dann ein unterreflektierter impliziter Zynismus, wenn jemand sich erhängt und das Seil «eng um seinen Hals liegt wie ein Schal im Dezember». Obwohl all das figurenpsychologisch abgefedert ist, lässt sich darin doch vor allem eine manierierte Schöngeistigkeit ablesen. Aber unter solchen Gesichtspunkten sind die einzelnen Sprachbilder zu beliebig, und als Aperçus geben Albas Ausführungen zu wenig her. Sentimentalität und Manierismus gehen hier eine letzten Endes narzisstische Verbindung ein, um jene eitle Sorte von Selbstreferentialität herzustellen, die sich wohl in Inputreferaten besonders gut macht. Vor diesem Roman ist also abzuraten, wenn nicht zu warnen; man ahnt trotzdem schon einen vermutlich viel besseren zweiten.

Demian Lienhard: Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. 360 Seiten. Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2019, ca. 28 Franken.

Weitere Bücher