KW14

Vom Suchen und Finden

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Tim Krohns neuer Roman «Herr Brechbühl sucht eine Katze» röntgt den Alltag. Heraus kommt ein Spiel mit seriellen Erzählformen, das alle Befürchtungen rasch widerlegt.

Von Tanja Kristina Sonder
3. April 2017

Tim Krohns jüngstem Roman kann man sich auf zwei Arten nähern. Zum einen über das ökonomische Konzept, das ihn bestimmt und das bereits im Vorfeld der Veröffentlichung hinreichend kommentiert wurde. Herr Brechbühl sucht eine Katze ist der Auftakt eines Mammutprojekts: Es handelt sich um den ersten Band einer augenblicklich auf etwa fünfzehn Bücher angelegten Romanreihe, die durch Crowdfunding finanziert werden soll. Interessierte Leser wählen eine Emotion und zahlen dafür, dass der Autor für sie dieser Emotion eine Geschichte widmet, die wiederum Teil eines grossen Ganzen wird. Drei Wörter oder Zahlen werden dabei vom zukünftigen «Textbesitzer» vorgegeben, der Rest gehört der Fantasie des Autors. Tim Krohn verkauft also Gefühle. Menschliche Gefühle, literarisch verpackt in den Alltag von elf Bewohnern eines Genossenschaftshauses in Zürich, in deren grössere und kleinere Dramen.

Enttäuschte Befürchtung, enttäuschte Erwartung

Zum anderen wird eine Lektüre dieses Romans natürlich umso mehr Augenmerk auf dasjenige legen müssen, was die verkauften Emotionen miteinander verbindet: auf den Plot und die Handlungsmuster, die er hervorbringt. Und hier zeigen sich nun die Qualitäten dieses Textes: Was sich nämlich auf den ersten Blick schwer wie ein Drehbuch für eine Vorabendseifenoper ausnimmt, ist bei genauerem Hinsehen eine Geschichte vom Suchen und Finden. Die Studenten Pit und Petzi sind sich zunächst körperlich so nah, dass erst die zwangsläufige Distanz ihnen erlaubt, einander sehen zu lernen. Gerda und Erich Wyss, beide achtzig, streiten sich darüber, wer zuerst sterben sollte und stecken schliesslich ganz unverhofft mitten in einer neuen Lebensaufgabe. Eine solche Aufgabe wünscht sich auch Efgenia Costa, die vorerst nur, nicht zuletzt dank ihres Mannes Adamo, in der Schmerzmittelsucht landet. Die anfangs arbeitslose Schauspielerin Selina hingegen gerät an eine Filmrolle, ohne sie wirklich zu wollen, während Hubert Brechbühl, wie der Titel verspricht, eine Katze sucht, und, so viel sei verraten, sie auch findet. Wenn auch etwas anders als erwartet.
Und auch das ist ein Grundprinzip des Romans: Lässt bereits sein Einband auf seichte Lektüre schliessen, auf fast fünfhundert Seiten voller Geschichten aus der Lindenstrasse – nur, um diese erste Befürchtung erzählerisch vollkommen auszuräumen –, so geschieht auch im Innern des Romans kaum etwas so, wie es der Erwartung im Aussen entspräche. So endet die Geschichte «Charisma» mit einer unvollendeten Theatermaske und Selinas innerem Frettchen, und das Kapitel «Lösungsorientiertheit», das zunächst von einem Nachbarschaftsstreit erzählt, mit einer eigenen Waschmaschine.

Zum Autor

Tim Krohn, aufgewachsen in Glarus, ist 1965 geboren, zählt zweifellos zu den produktivsten Schweizer Schriftstellern. Bekanntheit erlangte er insbesondere durch seine Romane «Quatemberkinder» (1998) und «Vrenelis Gärtli» (2007). Der u.a. mit dem Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis und dem Kulturpreis des Kantons Glarus ausgezeichnete Krohn, der lange Jahre auch am Schweizerischen Literaturinstitut als Dozent tätig war, lebt heute in Sta. Maria Val Müstair.
Foto: © Rolf Canal.

Die Literatur als Röntgenapparat

Tim Krohn kratzt nicht an der Oberfläche – er durchleuchtet sie. Für jedwede Art von menschlichen Regungen gelingt ihm die passende Geschichte mit den nicht minder passenden Figuren, und die Vermutung liegt nahe, dass die Protagonisten nicht zufällig ausgerechnet an der Röntgenstrasse wohnen. Während des Lesens entsteht der Eindruck, als würden die Figuren nicht er-, sondern gefunden. Nichts wird ihnen ins Innenleben gedichtet, was die äussere Gestalt unvorstellbar machte – aber der Leser muss hinsehen, muss die Fassade im wahrsten Sinne des Wortes röntgen, um erkennen zu können, was dahinter verborgen liegt: Gefühle, Gedanken und Empfindungen, die auch dem Publikum zumindest teilweise vertraut sein dürften. Herr Brechbühl sucht eine Katze ist ein Roman zum Miterleben, und der Autor macht genau das  dem Leser erstaunlich leicht. Es gelingt ihm, zwischen den Generationen hin und her zu springen, sodass der Eindruck entsteht, hinter der kleinen Mona stecke ein aufgewecktes, fünfjähriges Mädchen, während durch Erich Wyss tatsächlich ein achtzigjähriger Mann spreche.
Miterlebt werden denn auch viel mehr die Figuren als die Handlung an sich; es ist nicht das, was im Haus vor sich geht, sondern das, was in den Figuren geschieht, das es dem Leser leicht macht, die Protagonisten ins wirkliche Leben zu übertragen, obschon sich einige von ihnen etwas zu häufig in sexuelle Eskapaden verstricken (Efgenia mit Adamo, Efgenia mit Pit, Pit mit Petzi, Moritz mit Julia, Moritz beinahe mit Petzi). In diesem Genossenschaftshaus wohnen Menschen von nebenan, die trotz und wegen ihrer Eigenarten so einige Sympathiepunkte erzielen. Man mag sie, und man freut sich am Ende der fast fünfhundert Seiten darüber, dass noch einige tausend folgen werden. Ob das Interesse der Leser sowohl am Gefühlskauf als auch am Werk selbst über die Jahre erhalten bleibt, wird die Zeit zeigen.

Tim Krohn: Herr Brechbühl sucht eine Katze. 480 S. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017. ca. 28,- CHF.

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