KW11

«Authentisch ist das falsche Wort».

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Flurin Jeckers Adoleszenzroman «Lanz» gilt jetzt schon als eines der meistversprechenden Debüts 2017. Das Schweizer Buchjahr sprach mit dem 27jährigen Berner über Authentizität, Adoleszenz und Mediengebrauch.

Von Meret Mendelin, Philipp Theisohn

Flurin, warum ist Adoleszenz ein spannendes Thema?

Das habe ich mich auch ab und zu gefragt, also: Wieso ich ein Buch schreibe über einen 14jährigen. Und einer der Gründe ist, dass dies das Alter ist, in dem man nicht nur einfach in einem Zwischenraum ist, sondern in ihn hineinstürzt. Und dass man dieses Stürzen in jedem Alter immer wieder erfährt, dass man immer wieder nirgends ist. Und das finde ich beängstigend, existentiell beängstigend, wenn man zwar da ist, aber zugleich merkt, dass man jegliche Verbindung verloren hat. Das Schlimme an dem Alter ist ja eben auch, dass ein 14jähriger gegen diesen Zustand fast nichts unternehmen kann, da er in all diesen Zwängen drinsteckt. Er muss in die Schule, er muss bei den Eltern wohnen. Der hat diese ganzen Übergangsphänomene schon, ohne dass er selbst daran arbeiten kann. Mit 16 kann man sich aus vielen Szenarien schon herauskämpfen. Mit 14 ist man wehrlos.

Hat ein 14jähriger ein stärkeres Bewusstsein von dieser Ortlosigkeit als, beispielsweise, ein 26jähriger?

Er durchlebt diese Ortlosigkeit die ganze Zeit, aber ich würde nicht sagen, dass er sie bewusster durchlebt. Mit 14 wird man sich des Zustands vermutlich erstmals bewusst, aber wenn man eine Sache zum ersten Mal bewusst erlebt, dann kann man sie auch noch nicht ganz fassen. Ich begreife die Dinge eigentlich erst immer, wenn ich zum zweiten Mal die gleiche Erkenntnis gehabt habe. Lanz ist an dem Punkt angelangt, an dem er ganz viele Erkenntnisse zum allerersten Mal hat, und vermag sie deswegen auch noch nicht richtig einzuordnen.

Zum Autor

Flurin Jecker, 1990 in Bern geboren, studierte Biologie, bevor er 2013 das Studium in Literarischem Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel begann. Daneben schrieb er als freier Journalist für «Der Bund». Bekanntheit erlangte er nicht zuletzt durch das von ihm betriebene Blog. 2017 debütierte er mit seinem Roman «Lanz», für den er mehrfach ausgezeichnet wurde. «Ultraviolett» (2021) ist sein zweiter Roman. Jecker unterrichtet Workshops zum Literarischen Schreiben und lebt als freier Schriftsteller.
Foto: © Janis Maus Marti

Ist das dann noch «authentisch» erzählt, wenn man mit 26 die Welt eines 14jährigen zu erschreiben versucht?

Das müsste man natürlich die 14jährigen selbst fragen – also, ob das auf die authentisch wirkt. Entscheidend war für mich, dass die Erfahrungen der Figur, in dem Moment, in dem ich das Buch geschrieben habe, tatsächlich auch neu waren. Sonst hätte ich das gar nicht geschrieben. Das ist kein Text, den man vorher noch einmal im Kopf durchgeht, den man eben «noch einmal» schreiben könnte. «Authentisch» ist vermutlich das falsche Wort, «wahrhaftig» trifft es besser.

Aber ist der Blick, den man auf die Adoleszenz wirft, nicht notgedrungen ein verzerrter Blick?

Natürlich ist das ein verzerrter Blick, deswegen habe ich mich auch ganz bewusst nicht mit den 14jährigen auseinandergesetzt, recherchiert oder mir gar abgeschaut, wie die reden. Die Sprache im Buch ist ja nicht die Sprache heutiger 14jähriger. Deswegen ist das natürlich verzerrt und künstlich. Wichtig war mir nur, dass es vom Gefühl her der Text eines 14jährigen für mich sein musste. Ich habe aber noch nie mit einem 14jährigen gesprochen, der das Buch gelesen hatte, das würde mich schon interessieren, ob er dem Lanz seine Geschichte abnimmt.

Es geht also um Rollenprosa und nicht um Authentizität?

In einer Rezension stand, dass es irgendwo doch spürbar wäre, dass das Buch ein Erwachsener geschrieben habe. Ja, hoffentlich!

Gibt es denn so etwas wie eine Lust an literarischer Regression? Immerhin setzt man das eigene Erzählen damit einer Vielzahl an Einschränkungen aus, denn so viele Lösungsoptionen haben die Adoleszenten ja eben noch nicht.

Sprachlich vor allem. Diese Lanz-Sprache tönt jetzt im Nachgang so leichtfüssig, aber tatsächlich war das extrem mühsam. Für mich gab es vor allem diese Lust am Überraschungsmoment: Eine Figur, die von Anfang an eine Stufe unter dem Leser situiert ist und gerade deswegen das Potenzial hat, den Leser in bestimmten Gedanken zu überholen – das kann ein sehr starkes Stilmittel sein. Das hat mich gereizt. Auch der Umgang mit dem Klischee. Der Text verläuft ja häufig sehr «klischiert» und dann gibt es eben doch immer wieder plötzlich eine scharfe Kurve, kurz bevor Lanz beim Klischee ankommt. Aus der Erwartung des Klischees kann man sehr gut überraschen.

Kommen wir nochmals zur Sprache: Das ist schon eine Kunstsprache, oder?

Absolut. So spricht und schreibt ja niemand. Diese Sprache ist in ganz vielen kleinen Schritten entstanden, aber nicht aus der Beobachtung heraus, sondern aus ihrer eigenen Logik.

Das Buch inszeniert sich ja als ein Blog, also als ein anderes Medium. Was steckt hinter diesem Manöver?

Ich habe mich ja immer sehr gewundert, warum es nicht viel mehr Romane gibt, in denen Blogs vorkommen. Im Grunde ist es ja ein Tagebuch-Roman, mit dem entscheidenden Unterschied, dass Lanz grundsätzlich all das, was er aufschreibt, jemandem mitteilen möchte – das ist ja die explizite Funktion eines Blogs. Insofern ist das ja auch ein Zwischenmedium: Das öffentliche Intime. Mit der feinen Einschränkung, dass Lanz sein Blog ja eben gerade nicht veröffentlichen möchte. Und das kennzeichnet ja auch seine gesamte Erzählsituation – alle Personen, mit denen er zu tun hat, wissen ja nichts von ihm, bis zum Schluss. Nur der Leser weiss alles. Und diese Kommunikationssituation teilen ja viele Menschen, Jugendliche allerdings in extremem Masse. Wenn man die überall mit ihren Natels sieht, dann sehen 50- oder 60jährige in der Regel nicht, was da dahintersteckt, sondern halten das für Kulturverfall. Tatsächlich ist das aber eine sehr komplexe Geschichte, denn Jugendliche, die alles Mögliche von sich auf Facebook posten, wehren sich zugleich sehr heftig dagegen, ihre innere Welt nach aussen zu kehren.

Im Buch ist es der Lehrer, der genau das anprangert, die Selfie-Kultur, die sich mit der Weigerung kreuzt, sich öffentlich auszusprechen…

In dem angesprochenen Dialog gibt es ja ein kulturelles Missverständnis. Der Lehrer hat natürlich einerseits recht, wenn er es nicht begreift, dass die Schüler ihre Bereitschaft, online zu kommunizieren, sofort einstellen, sobald das im schulischen Rahmen erfolgt. Andererseits kann es Lanz nicht einmal ansatzweise verstehen, wie jemand davon ausgehen kann, dass das Posten eines Selfies dasselbe sei wie darüber zu schreiben, dass man mit 14 noch Jungfrau sei. Und das ist ein Missverständnis, das vielleicht trivial ist, aber in der heutigen Zeit sehr bedeutsam. Vielleicht ist das in zehn oder zwanzig Jahren verschwunden. Aber heute leben wir immer noch mit dem Vorurteil, Jugendliche hätten keine Privatsphäre mehr. In Wahrheit haben die nur eine andere Sensibilität dafür.

Du hast ja auch selbst (und das nicht unbemerkt) ein Blog betrieben, aber wenn wir das richtig sehen, ist der nicht mehr online.

Das Blog ist langsam gestorben. Vom Netz ist er nicht, ich habe ja noch meine Seite. Aber ich habe vor allem vor 5, 6 Jahren viel gebloggt, seit 4 Jahren fast gar nicht mehr. Insofern ist das Blog sehr veraltet. Als Schreibform finde ich das nach wie vor sehr interessant, insbesondere im essayistischen Sinn, ich finde, Blogs werden von Privatleuten immer noch zu wenig eingesetzt, obwohl das so einfach wäre. Ich habe mit 19, 20 ein paar Blogs geschrieben, die insgesamt 50 000mal gelesen, und Videoblogs gemacht, die über 100 000mal angeschaut wurden, nur weil meine Meinung eben den Zeitgeist traf – das ist völlig absurd. Vor 30 Jahren wär so etwas undenkbar gewesen. In literarischer Hinsicht erscheint mir es allerdings fast unmöglich, auf Blogs zurückzugreifen. Nie könnte ich literarische Texte in einem Blog veröffentlichen. Literarisches Schreiben braucht das Gegenteil: Ruhe, keine Kommentare, keine Bewertungen.

Nun ist «Lanz», wie wir vorhin schon diskutiert haben,  ja aber eben auch kein «echtes» Blog, das im Netz einsehbar ist, sondern ein unveröffentlichtes Blog, das zwischen zwei Buchdeckel gepresst wurde…

Ja, deswegen hatte ich während dem Schreiben auch immer die Möglichkeit im Kopf, dass Lanz dann doch auf einmal das Blog online schaltet. Und er dann Reaktionen bekommt. Samuel Moser, der grosse Bieler Literaturkritiker, hat dazu gemeint, dass er das für den zentralen Aspekt des Buches hält: Das Sich-Sträuben des Schriftstellers vor der Veröffentlichung.

Nun ist Lanz auch genau das Gegenteil eines «homme littéraire», den Mahnungen seiner Mutter, auf Reisen ein Buch mitzunehmen, hält er entgegen, «dass ich eh nie im Leben lesen würde und darum auch kein scheiss Buch brauch[]e». Die Literatur bewegt sich also auf einem Terrain, auf dem sie bedeutungslos zu sein scheint. Ist «Lanz» ein ethnologisches Experiment?

Lanz’ Schreibprozess ist kein literarischer Prozess. Darum ist es auch wichtig, dass man merkt, dass nicht er das Buch geschrieben hat, sondern ein Autor, man also den literarischen Prozess dahinter wahrnimmt.

Du hast vorhin bereits das Problem des Klischees angesprochen: Muss Literatur denn in einem a-literarischen Gebiet nicht automatisch klischeehaft werden.

Das Interessante ist doch: Ich hasse Klischees, jeder, der sich mit etwas wirklich auseinandersetzt, hasst Klischees. Aber da kommt so ein Junge, der irgendwie in ein Mädchen verliebt ist und dann kommt noch der verhasste Lehrer hinzu – alles Klischee. Und dann habe ich mich schon gefragt, wie ich eigentlich so etwas veröffentlichen kann. Und das kommt daher, weil ich eben die Ruhe hatte, das Klischee unkommentiert auszuhalten und zu akzeptieren, dass das eben zu dieser Geschichte gehört. So wie unser Leben ja auch klischeebehaftet ist.

Ist die Entscheidung für einen jugendlichen Protagonisten denn immer auch schon eine Entscheidung für ein bestimmtes Genre – Stichwort: «Coming of Age»?

Nein. Ich habe nicht einmal den Vorsatz gehabt, unbedingt einen 14jährigen Protagonisten zu haben, das ergab sich eher aus der Entscheidung für eine bestimmte Sprachlichkeit. Mit der Entscheidung für die Sprache war klar, das ist ein Junge, der so 13, 14 ist und extrem viel zu erzählen hat. Und dann wird es natürlich doch schnell ein «Coming of Age»-Roman.

Hattest Du denn die Genretradition im Blick?

Ich habe mich dann in der Tat gut im Genre umgesehen. Gelesen habe ich z.B. Antonia Baums Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren – grossartiges Buch –, Salinger natürlich, Tschick bzw. sowieso alles von Herrndorf, Crazy von Lebert, The perks of being a wallflower von Stephen Chbosky. Aber die meisten erst, nachdem ich mit dem Schreiben begonnen hatte, da hat mich das alles dann sehr interessiert. Es hat in der Tat sehr viele gute Bücher in dem Genre.

Die Frage, an der sich solche Genrezuordnungen ja meist entscheiden, ist die nach dem Zielpublikum. Welchen Leser hat Dein Roman denn vor Augen?

Gute Frage, denn man hat es da ja mit einer Doppelperspektive zu tun: Lanz selber hat ja auch einen Leser vor Augen. Aber: Ganz klar ist da ein erwachsenes Publikum adressiert. Ein Publikum, das auch deutlich älter ist als ich.

Also einem 14jährigen würdest Du das Buch nicht ohne Weiteres in die Hand drücken?

Nein, weil die Spannung tatsächlich daher kommt, dass der Leser älter ist als die Erzählfigur. Nicht, dass ein 14jähriger das nicht lesen kann. Doch geht dann wohl ein bisschen was verloren.

Das Gespräch führten Meret Mendelin und Philipp Theisohn.

Flurin Jecker: Lanz. 128 S. Zürich: Nagel & Kimche 2017. ca. 26 CHF.

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