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«Erzählen ist ein Akt der Selbstbestimmung»

Im Frühjahr hat Martina Clavadetscher mit «Die Erfindung des Ungehorsams» ihren zweiten Roman vorgelegt. Wir haben Sie im virtuellen Raum getroffen und mit ihr über ihre Poetik der Musik, weibliche Körperlichkeit und die Programmierbarkeit des Ungehorsams gesprochen.

Von Redaktion
17. Mai 2021

Frau Clavadetscher, in Ihrem neuen Roman Die Erfindung des Ungehorsams geht es unter anderem um die Unterscheidung von weiblichen Menschen und weiblichen Maschinen. Was reizt Sie an diesem Thema?

Ich habe mich in diesem Buch vor allem mit drei Themen literarisch auseinandergesetzt: Weiblichkeit, Körperlichkeit und Programmierung. Mit letzterer ist nicht nur eine technologische Dimension angesprochen, vielmehr geht es auch um eine gesellschaftliche Programmierung, von der in meinem Roman primär die weiblichen Hauptfiguren betroffen sind. Besonders interessant finde ich die Frage, wie sich Menschen von humanoiden Robotern unterscheiden. Die Grenze lässt sich hier kaum bestimmen, was einen unheimlichen Effekt hervorruft.

Das lässt sofort eine konkrete literarische Vorlage vermuten: E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann. Allerdings wechseln Sie die Perspektive – sie lassen eine Puppe von einem Menschen erzählen, der sich wiederum wie eine Maschine verhält.

Richtig, es gibt aber noch weitere Bezüge zu literarischen Kunstwesen, die lebendig werden, so z. B. Pygmalion oder Mary Shelleys Frankenstein. Shelley verdanke ich die Idee der verschachtelten Erzählstruktur: der Aufbau von Kern, Fleisch und Haut, sprich Erzählrahmen, Binnenerzählung und einem Erzählkern. Bei Shelley ist es das Monster, das diese Kerngeschichte erzählt. Die Erzählperspektive des Geschöpfs zu übernehmen, ist deswegen interessant, weil die Fähigkeit zu Erzählen konventionell dem Menschen vorbehalten wird. Eine non-humane Erzählperspektive überschreitet diese anthropozentrische Grenzlinie, was unheimlich und bedrohlich wirkt, aber eben auch anmassend. Erzählen, ein eigenes Narrativ zu entwickeln, bedeutet ja die grösstmögliche Autonomie und Freiheit. Interessant ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass die Puppe Harmony von einer historisch verbürgten Person erzählt, Ada Lovelace, die tatsächlich den Grundstein für das Programmieren gelegt hat. Ada Lovelace ist damit gewissermassen die Voraussetzung dafür, dass Maschinen wie Harmony und Iris überhaupt existieren. Alle Teile bedingen einander. Diese Netzstruktur war mir sehr wichtig.

Diese Verknüpfungen fallen schnell ins Auge. Weniger greifbar bleibt dagegen die Welt rund um die erzählende Puppe Iris, die am Ende aufbricht. Was für eine Welt verlässt sie denn?

Die Iris-Welt ist die äusserste Erzählschicht des Romans und darum jene Welt, die unserer realen am nächsten ist. Hier bleibt wirklich vieles unbestimmt und unheimlich: die Hitze draussen, das Eingesperrtsein, die Alltagsstrukturen, die sich wiederholen. Wir erfassen Iris erst über ihre Erzählung, von der wir jedoch auch nicht wissen, was davon erfunden und was wahr ist, denn gerade bei Iris bleibt es zweifelhaft, ob sie wirklich eine Maschine ist, da bei ihr der eigene Wille so stark eingeschrieben ist. Dieser bringt sie ja auch zum Erzählen. Sie will sich dem ihr eingeschriebenen Programm widersetzen, um es zu überwinden und ihr eigenes Programm zu schreiben. Ling hingegen, ihre menschliche Spiegelfigur, wirkt aufgrund ihres Autismus wiederum kühl und roboterhaft. Sie selber scheint mehr Hülle als Mensch zu sein, weil sie Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung von Emotionen und ihrem eigenen Körper hat. Auch bei ihr als Mensch zeigt sich also, dass die soziale Programmierung Strukturen erzeugt, die sich nur schwer überwinden lassen.

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geb. 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Es folgten ein Stipendium-Aufenthalt in Berlin und Uraufführungen ihrer Theaterstücke in der Schweiz und Deutschland. Im März 2014 erschien ihr Prosadebüt «Sammler». Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Stück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war damit im selben Jahr zum Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren ersten Roman «Knochenlieder» wurde sie 2017 für die Shortlist des Schweizer Buchpreises nominiert und mit dem Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. Clavadetscher zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dramatikerinnen der Schweiz.
Foto: © Janine Schranz

Iris, Ling und viele andere Figuren verbindet eine Gemeinsamkeit: Sie sind ungehorsam. Ist der Ungehorsam erfunden, programmiert oder gar ein Unfall?

Nian, eine der Androidinnen, ist davon überzeugt, dass ein Funke Ungehorsam programmierbar sei, damit sich das ganze System irgendwann verselbstständige. Bei KIs wird diese Verselbständigung ja tatsächlich oft befürchtet. Zea hingegen – ebenfalls eine Androidin – kontrastiert diese Wissenschaftsgläubigkeit durch ihre religiöse Seite. Just in einem ihrer religiösen Rituale, und zwar aufgrund eines Niesens, wird ein letzter Lebensfunke, ein Keim, in dieses Programm eingepflanzt. Das ist der Zeugungsmoment des Lebenswillens, des Willens zum Ungehorsam. Dieser Wille durchdringt und verbindet alles: die drei Erzählwelten, die drei Figuren, die drei Romanteile. In diesem Fall fliegt der besagte Keim aus dem Ada-Teil durch die Zeit und hinüber in den Ling-Teil. Ada wünscht sich ja, dass ein Funke auffliegt, die Frauen freier werden und sich das Ungeheuerliche, der Funke zum Ungehorsam, wieder einpflanzen kann.

Das Material, das Zea für ihr Ritual verwendet, ist Silikon: Der Rohstoff für perfekte, saubere Haut. Von penibler Reinlichkeit ist auch Lings Puppenwerkstatt. Weibliche Körperlichkeit und Sexualität werden hier als etwas gezeigt, dem etwas Schmutziges anhaftet und das sich allen voran die Männer vom Leib halten wollen.

Absolut. Darin zeigt sich, wie gesellschaftlich tradierte Bilder von Frauenkörpern und weiblicher Körperlichkeit unauflösbar mit männlichen Sexualphantasien verknüpft sind. Bei Ada geht es um die weibliche Körperlichkeit, die im viktorianischen Zeitalter bis zum Verschwinden unterdrückt wurde. In der Erzählung rund um die Figur Ling wiederum wird der weibliche Wunschkörper zum Thema – ein Körper, der nach individuellen Bedürfnissen geschaffen wird. Ein anmassender Schöpfungsakt, der in serienmässiger Produktion verläuft. Für Iris hingegen ist das Altern, gerade weil es in dieser Werteordnung negativ behaftet ist, etwas Reizvolles: Im Gegensatz zu ihren Gästen kann sie nicht altern, und gerade deswegen findet Iris sie schön. Sie wünscht sich, altern zu können oder Narben zu tragen, weil sie Spuren einer Prägung durch das Leben sind.

Das Bild der Haut lässt sich gut auf den Text projizieren: Es passt zum Text als Gewebe, das Narben bzw. Leerstellen aufweist, der graust – einen solchen Text will Iris erzeugen. In diesem Zusammenhang ist mir das Wort „Gruselgraben“ aufgefallen.

Das ist eine Übersetzung von «Uncanny Valley»: die fehlende Akzeptanz, wenn die äusserlichen Unterschiede zwischen humanoiden Robotern und Menschen immer kleiner werden. Diese Verringerung wahrnehmbarer Unterschiede bewirkt einen unheimlichen Effekt. Dieser Graben taucht in meinem Roman immer wieder auf, weil man oft nicht zwischen Maschine und Mensch unterscheiden kann.

Iris erzählt aus der Perspektive von Ling, in Lings Beschreibungen schwingt wiederum eine Art Zea-Ton mit. Das narrative Arrangement arbeitet also auch auf eine Einebnung der Kluft zwischen Mensch und Maschine hin, die Verunsicherung, Befremden hervorruft.

Die Figuren fliessen natürlich stark ineinander, sie sind miteinander verbunden. Auf der einen Seite ruft das Irritation hervor, auf der anderen schafft das eine Art kollektives Bewusstsein dieser Frauenfiguren. Diese Verbundenheit zeigt sich in Motiven und auch in Sätzen, die in allen drei Teilen vorkommen und sich wiederholen. Das Motiv des Kerns ist ein gutes Beispiel hierfür: Zuerst erscheint ein Kern in einer Aprikose, die verfault. Iris wiederum will in ihrer Erzählung zum Kern vorstossen: Sie erzählt zum Kern hin und wieder hinaus. Dieser Kern ist nichts anderes als eine Herkunftssuche: Wo komme ich her? Was hat mich bedingt? Wessen biologisches oder wessen schöpferisches Erzeugnis bin ich? Es geht stark um eine Ich-Suche, die bei Iris im Erzählen ist ein Akt der Befreiung mündet: Sie findet sich so selbst, ein eigenes Narrativ und einen Weg, dem ursprünglichen Programm zu entfliehen. Damit wird das weibliche Erzählen in diesem Text vor allem als ein emanzipatorischer Akt dargestellt.

Es gibt nicht so viele Männerfiguren, die Eingang in die Erzählung von Iris finden. Das lässt die Figur des Wachmanns umso mehr hervortreten: Er wird zum Protagonisten eines alternativen Froschkönig-Märchen, in dem er zum Diener wird und mit dieser Rolle unheimlich glücklich ist.

Jon B. ist eine wunderbare Figur. Er hat seine Rolle selbst gewählt und ist glücklich damit. Ich mag diese Figur sehr gerne: Er ist ein Gehilfe, ein Verliebter, er ist Mitwisser und Kumpel. Vor allen Dingen zeichnet er sich dadurch aus, dass er nicht wertet: Er stellt Lings Lebensweise nicht in Frage. Ursprünglich hatte ich für ihn keine grosse Rolle vorgesehen. Als er aber während des Schreibprozesses an Bedeutung gewann und plötzlich an Lings Türe geklingelt hat, konnte und wollte ich das gar nicht mehr verhindern.

Ich würde gerne noch ein Thema ansprechen, das sich durch Ihr Werk zieht, und zwar die Musik. Einerseits ist Musik in Ihren Texten ein rekurrierendes Motiv, andererseits weisen Ihre Texte durch die Häufung rhythmisierter, lyrischer Stellen musikalische Strukturen auf.

Ja, die fast schon lyrischen Passagen sind stark rhythmisiert. Über die Rhythmisierung erzeuge ich Tempo, so kann ich den Lesefluss einer Leserin stark steuern. Bei Knochenlieder war das noch dominanter als es jetzt bei Die Erfindung des Ungehorsams ist. Dort, wo sich in meinem neuen Roman solche Stellen finden, wollte ich den Inhalt durch diese Form stärken. Bei der Szene mit dem Türspion, in der sich Ling und der Wachmann zum ersten Mal begegnen, versuchte ich, die kippende Perspektive mit der Form, den Zeilensprüngen zu stützen. Ein interessantes Leitmotiv ist das Theremin, das in dem Film vorkommt, den sich Ling oft sieht. Es unterstützt den Gruselcharakter des Textes, erzeugt aber eine unheimlich traurige, melancholische Stimmung. Für mich ist es ein Instrument mit einem stark szenischen Charakter, das Räume öffnet. In Stuttgart wurde mir einmal die schöne Frage gestellt, was ich für einen Soundtrack für Knochenlieder auswählen würde. Lustigerweise nannte ich die Musik von Carolina Eyck, die auf dem Theremin musiziert. Für Die Erfindung des Ungehorsams wäre es etwas ganz anders: Die Musik von Air für den Film The Virgin Suicides.

In der Musik steckt auch das Potential zur Auflehnung, zum Ungehorsam. So singt Ada einen Teil aus dem Kirchenlied „Befiehl du deine Wege“ von Paul Gerhardt.

Damit manipuliert sie ihre Mutter. Die Mutter will ihr ja die Musik verbieten, weil sie möchte, dass ihre Tochter naturwissenschaftlich und nicht poetisch denkt. Von der zügellosen Kunst soll sie sich fernhalten. Weil es ein Kirchenlied ist, das zudem die Hierarchie zwischen Gott und der Schöpfung verdeutlicht, kann die Mutter jedoch nichts gegen diese Musik sagen. Im Gegensatz zu Knochenlieder, in dem die Musik motivisch stark im Vordergrund stand, schwingt sie hier vielmehr mit, als Färbung von bestimmten Szenen. Musik ist ein starkes, dankbares Motiv, etwas sehr Freies, das ich in diesem Buch wohl etwas vernachlässigt habe, weil mir das Körperliche wichtiger war. Musik ist nur begrenzt körperlich: Sie entspringt zwar einem Körper, ist Schall, gewinnt dadurch aber fast schon etwas Metphysisches.

Wie hat sich denn das Corona-Jahr auf Ihre Arbeit ausgewirkt?

Es war ein mühsames Jahr, insbesondere für die Arbeit am Theater, weil viele Aufführungen abgesagt oder verschoben wurden. Glücklicherweise ist mir ein grosser Teil der fehlenden Theater-Einkünfte vom Kanton zurückerstattet worden. Und eigentlich hätte ich 2020 dank eines Atelierstipendiums vier Monate in New gearbeitet. Dieser Aufenthalt hat sich nun leider um 2 Jahre verschoben.

Woran haben Sie denn gearbeitet?

An einem Theaterstück. Und ich schreibe an einem neuen Roman, aber da ist noch nichts spruchreif. Schreiben konnte ich meist relativ gut. Weil ich mich jedoch als selbstständig Erwerbende um viel Administratives kümmern musste, war auch das Schreiben nicht so einfach. Glücklicherweise war das Jahr nicht als Lesejahr vorgesehen, sonst wäre ein grosser Teil der Einkünfte weggefallen. Im Grossen und Ganzen hatte ich Glück. Und ich hoffe natürlich, dass sich die Situation bald entspannt.

Das Gespräch führte Tamara Schmid. / Titelbild: © Ingo Hoehn