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Wäre ich nur ein Mann… Martina Clavadetschers «Frau Ada» am Schauspiel Leipzig

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Ada Lovelace gilt heute als weibliche Pionierin des Digitalzeitalters, doch was bedeuten ihre Ideen wirklich für unsere Gegenwart? Martina Clavadetscher liefert in «Frau Ada denkt Unerhörtes» eine düstere Antwort auf diese Frage. Am Schauspiel Leipzig feierte ihr Stück seine Uraufführung.

Von Janick Nolting
30. September 2019

Die Natur schaut nur hilflos zu. Das halbrunde Bühnenbild ist umgrenzt von einem Regenwaldpanorama. Davor liegen die puppenartigen Gestalten, die nach und nach zum Leben erwachen. In ihrem Kinderzimmer halluziniert Ada Lovelace einen Dialog mit ihren zwei alten Puppen, sinniert von fliegenden Pferden, großen Maschinen, während ihre strenge Mutter jegliche Kreativität, jegliche Schwärmereien im Keim ersticken will. Sie erzieht ihre Tochter zu einem angepassten Roboter, der zu funktionieren und sich auf das Rationale zu konzentrieren hat, während die beiden Puppen (Julius Forster und Felix Axel Preißler in halbdurchsichtigen Ganzkörperanzügen) Adas Pläne weiter befeuern. Ausgerechnet dieser Zwiespalt zwischen Körper und Geist, strengem Gesellschaftskorsett und revolutionärem Denken findet vor besagter Waldkulisse statt, obwohl bereits jeder Funke Natürlichkeit in dieser Welt verschwunden scheint. Martina Clavadetscher (2017 mit ihrem Roman Knochenlieder nominiert für den Schweizer Buchpreis) hat in ihrem Theaterstück aus dem kurzen Leben von Ada Lovelace einen regelrechten Fieberrausch geschaffen. Damit umgeht sie gekonnt die Hürde, eine ganze Biographie bühnentauglich zu verarbeiten, und verdichtet den inneren Konflikt dieser hin- und hergerissenen Frauenfigur zu einer mitreißenden Versuchsanordnung.

Die Britin Augusta Ada Lovelace – so ihr voller Name – befasste sich im 19. Jahrhundert mit einem dampfbetriebenen Supercomputer, die von dem Mathematiker Charles Babbage entworfene «Analytical Engine», zu der Ada einen Kommentar und einen Berechnungsplan anfertigte. Doch die Gesellschaft verweigerte ihr eine Karriere in dieser Branche, Frauen durften in England nicht studieren und keine wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichen. «Wäre ich nur ein Mann!», sagt Ada in Clavadetschers Stück irgendwann im Zwiegespräch mit ihren Puppen, die immer wieder verschiedene Identitäten annehmen, die Adas Leben geprägt haben. Somit wird «Frau Ada denkt Unerhörtes» auch zu einem emanzipatorischen Stück, obwohl die Befreiung aus den gesellschaftlichen Zwängen zu Adas Lebzeiten unmöglich scheint. Regisseurin Katrin Plötner übersetzt diesen Kampf von Clavadetschers Protagonistin auf der Bühne mit einfachsten Mitteln in eine faszinierende Körperlichkeit, ein sonderlich aufregendes Bühnenbild braucht sie dabei gar nicht. Da frieren die Gliedmaßen immer wieder ein, werden abwechselnd ganz schwer und leicht, bewegen sich roboterartig. Die Körper werden puppengleich durch die Gegend geschleudert. Ordentlich Muskelarbeit für die vier Darstellerinnen und Darsteller! Auch Ada hat teilweise kaum noch etwas Menschliches an sich. Die Zwänge von außen haben sie selbst in eine Menschen-Puppe verwandelt. So gern man diesem Körpertheater zusieht, so sehr wünscht man sich auch, dieser erste Teil würde dem Szenario noch mehr Raum zum Atmen geben. Alles wirkt etwas überhetzt, gerade hat man sich in Adas Gedankenwelt zurechtgefunden, da geht sie auch schon an ihr zu Grunde. Die «unerhörten» Pläne der Hauptfigur bilden nur den ersten Teil dieses Abends, bevor der Stoff ins Hier und Jetzt geholt wird.

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geb. 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Es folgten ein Stipendium-Aufenthalt in Berlin und Uraufführungen ihrer Theaterstücke in der Schweiz und Deutschland. Im März 2014 erschien ihr Prosadebüt «Sammler». Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Stück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war damit im selben Jahr zum Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren ersten Roman «Knochenlieder» wurde sie 2017 für die Shortlist des Schweizer Buchpreises nominiert und mit dem Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. Clavadetscher zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dramatikerinnen der Schweiz.
Foto: © Janine Schranz

Während der Nebel über die Bühne wabert und die tote Ada in der Unterbühne entsorgt wird, weicht der Wald im Hintergrund kühlen Metallplatten. Adas Ideen von intelligenten Maschinen sind jetzt längst Wirklichkeit geworden. Wir befinden uns plötzlich in der nahen Zukunft. Oder ist es sogar unsere Gegenwart? Die Verwandlung zur vollständigen Künstlichkeit, jegliche Verdrängung des Natürlichen gelangt in diesem zweiten Teil des Stücks zur Vollendung. Die Charakterstudie im Historiengewand weicht modernem Sci-Fi-Horror. In einem Labor wird Ada als künstlich erschaffener Mensch wiedergeboren, der den drei auftretenden Wissenschaftlern das Leben schwer machen wird. Wie intelligent darf eine Maschine sein? Was passiert, wenn die Kopie plötzlich ihr Original überholt? «Das Vögelchen singt niemals besser als der Muttervogel», heißt es immer wieder im Stück. Doch dieses ES, das da erschaffen wurde, besitzt ein höheres Denkvermögen und wähnt sich selbst als perfekten Menschen, indem jegliche Emotionalität ausgeschaltet wird. Diese posthumanen Phantasmen, diese schwierigen moralischen Fragen, die da verhandelt werden: All das wirkt mittlerweile nur noch wenig originell, immerhin hat man es besonders im Kino in den letzten Jahren unzählige Male sehen können, sei es im Kammerspiel «Ex Machina», in der Serie Westworld oder Dennis Villeneuves Blade Runner-Fortsetzung. Aber warum auch nicht? Schließlich besitzt dieses Dilemma des Posthumanen, der Körperoptimierung in unserem heutigen technologischen Fortschritt eine größere Dringlichkeit denn je. Dazu ist es eine große Freude, Katharina Schmidt in der Hauptrolle zuzusehen. Ihr gelingt eine mitreißende Verkörperung einerseits der zerbrechlichen Ada, andererseits des furchteinflößenden, völlig emotionslosen ES. Wenn diese künstliche Frau die Kontrolle übernimmt, hätte sich das ruhig noch etwas zügelloser dem Schrecken hingeben können, ist aber in seiner Kühle, seiner Sterilität trotzdem atmosphärisch dicht auf die Bühne gebracht worden.

Somit sind am Ende beide Teile dieses Abends, für sich betrachtet, nicht makellos: Mangelt es der ersten Hälfte in der Kürze der Aufführung noch an Emotionalität und Ruhe, hätte der zweiten etwas mehr Mut zum inszenatorischen Risiko nicht geschadet. Was diesen Abend dennoch so spannend macht, ist die Verknüpfung der beiden Geschichten, der thematische Bogen, der über beide Teile gespannt wird und einen mit jeder Menge Diskussionsstoff entlässt. Das wirkt im ersten Moment nihilistisch, wenn die Pläne einer bemerkenswerten Rebellin ins Grauenvolle verzerrt werden, ist jedoch eine bemerkenswerte Befragung auf die Aktualität dieses Stoffes. Nicht nur des Fortschrittsglaubens, des ungebremsten Scientismus, sondern auch des Unheimlichen der Wissenschaft. Stark, wie da die dunkle Romantik, vor der sich Adas Mutter immer gefürchtet hat, in diesem futuristischen Grusel-Labor plötzlich Bahn bricht! Wenn sich am Ende die beiden Zeitebenen verschränken, die Konstruktion des Menschen offenbar wieder von vorn beginnt, dann bleibt ein Rest Gänsehaut.

FRAU ADA DENKT UNERHÖRTES Schauspiel Leipzig Spieldauer: 1: 30, keine Pause Besetzung: Anne Cathrin Buhtz, Julius Forster, Felix Axel Preißler, Katharina Schmidt Regie: Katrin Plötner Bühne: Camilla Hägebarth Dramaturgie: Benjamin Große Nächste Aufführungstermine: 5.10.; 18.10.; 25.10.; 16.11.; 30.11.

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