KW18

«Es fehlt die Kompetenz, queere Texte zu lesen»

Donat Blum hat mit «Opoe» im 2018 ein viel beachtetes Romandebüt verfasst. Während er in Berlin an seinem zweiten Roman arbeitet, spricht Urs Albrecht mit ihm über seine Wahlheimat Berlin, über die Stellung von Queerness in der Literatur und über die Frage, worin die Relevanz von Literatur besteht.

Von Urs Albrecht
3. Mai 2021

Donat, in deinem Essay Brief an Schaffhausen: Klein, kleiner, Kleinstadt kritisierst Du die konservativen Strukturen der Schweizer Städte. Du pendelst zwischen Zürich und Berlin. Ist Dir die Schweiz zu eng geworden?

Ohne arrogant sein zu wollen – ja. Die Schweiz ist ein unglaublich sattes Land, in dem alles aufgegleist, organisiert und abgeschlossen ist. Dank dem ausserordentlichen Wohlstand ist natürlich auch vieles möglich, aber wenig ist dringlich – es gibt wenig Notwendigkeit abzuweichen von dem, was ist.

Wie steht es mit Berlin – spürst Du da mehr von dieser «Dringlichkeit»?

Ich romantisiere Berlin gerne, aber man kann es auch ganz pragmatisch betrachten: Berlin ist die grösste Stadt im deutschsprachigen Raum und daher zwangsläufig das Zentrum der deutschsprachigen Kultur. Aber auch historisch betrachtet ist Berlin interessant, denn es ist noch nicht lange her, dass hier zwei auseinandergebrochene Teile wieder zusammengeführt wurden. Dadurch musste Berlin eine neue städtische, vor allem aber auch kulturelle Identität herausbilden. Dieser Zusammenschluss und der Identitätsbildungsprozess sind noch nicht abgeschlossen, so gesehen gibt es hier tatsächlich mehr zu tun. Ausserdem ist Berlin vermutlich die progressivste Stadt im deutschsprachigen Raum, vielleicht sogar weltweit. Hier zu leben und das Gefühl zu bekommen, auch als queerer Mensch «dazuzugehören», ist ganz wichtig für mich.

Du bist ja auch Herausgeber von Glitter, der bis anhin einzigen deutschsprachigen queeren Literaturzeitschrift. Gibt es hinsichtlich queerer Literatur auch – um deine Worte aufzunehmen – viel «zu tun»?

Ja, dieses Feld liegt total brach. Es herrscht offensichtlich die Vorstellung, queere Literatur gehe nur Queers etwas an. Sowohl von queerer als auch heteronormativer Seite werden keine Brücken gebaut. Vor Glitter gab es keine queere Literaturzeitschrift, nicht einmal eine schwule Literaturzeitschrift. Soviel ich weiss, gab ein Literaturwissenschaftler in den 80ern und 90ern mal ein Periodicum heraus, in dem schwule Literatur besprochen wurde, aber auch dies beschränkte sich auf einen kleinen, privaten Kreis. Es gibt zwar kleine Verlage, die sich explizit queeren Themen annehmen, aber selbst diese publizieren vor allem Übersetzungen und bedienen – vermutlich ungewollt – eine Nische. Ausserdem fehlt bis heute ein Metadiskurs, sowie spezifische Förderinstrumente. Es gibt keine Möglichkeit irgendwo anzudocken, wenn man queere Literatur macht, kaum eine «Anwaltschaft» für diesen Aspekt von Literatur.

Zum Autor

Donat Blum hat ein Filmfestival geleitet, als Tellerwäscher und Geschäftsführer gearbeitet und am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut studiert. Er veröffentlicht in zahlreichen Zeitschriften, ist Mitveranstalter der Werkstattgespräche «Teppich» im Literaturhaus Zürich, Initiator der Veranstaltung «Skriptor» an den Solothurner Literaturtagen und Herausgeber der Literaturzeitschrift Glitter.
Foto: © Marvin Zilm

Es erstaunt mich, dass es heute diese «Anwaltschaft» noch braucht, denn das Thema «Queerness» ist in unseren Breitengeraden doch mittlerweile im öffentlichen Diskurs angekommen und hat dort einen festen Platz. Ist es nicht in gewisser Hinsicht anachronistisch, so etwas wie ein «queeres Label» für eine bestimmte Art von Literatur zu verwenden?

Das Thema ist überhaupt keine Selbstverständlichkeit. Queere Studierende haben beispielsweise mangels gefühlter Akzeptanz ein vier- bis achtfach höheres Risiko für suizidale Gedanken und Verhaltensweisen als heterosexuelle Kommiliton*innen. Und im Literaturbetrieb betrachten Verlage das Label «queer» noch immer als verkaufsschädigend. Es fehlt die Kompetenz, queere Texte zu lesen. Nehmen wir James Baldwin: Alle loben seine Literatur dafür, wie anschaulich darin das Leben als schwarzer Mann zu seiner Zeit erzählt wird. Der Witz ist aber: Er war nicht einfach nur ein schwarzer Mann, sondern ein schwarzer schwuler Mann. Und wenn ich mit queerer Lesekompetenz einen Essay von ihm lese, kann ich in jedem fünften Satz aufzeigen, warum diese doppelte Diskriminierung für ihn eine ganz andere Dimension hat. Er erlebt innerhalb der Schwarzen Gemeinschaft eine weitere Diskriminierung, kann dies aber nicht artikulieren, weil er fürchtet, damit das heterosexuelle Publikum nicht mehr anzusprechen. In der Regel wird dieser Aspekt in der Rezeption seiner Literatur weitgehend vernachlässigt. Das setzt sich bis in die Gegenwart deutschsprachiger queerer Literatur fort: Es herrscht eine Mutlosigkeit, die vermutlich auch damit zu tun hat, dass der Literaturbetrieb selber prekär ist. Da die Verlage um ihre Existenzsicherung ringen, gehen sie kaum Risiken ein und veröffentlichen vorwiegend, was sich als erfolgreich bewährt hat. Das konnte man kürzlich beispielhaft an drei Büchern sehen, die autofiktionale Transmänner-Biografien erzählen und dreimal das exakt gleiche Narrativ der Transition beschreiben, sogar die Titel ähneln sich. Hanser hat dieses queere Thema lanciert, und erst als es sich bewährt hatte, zogen andere Verlage nach. Das ist absurd, aber so tickt der Literaturbetrieb.

Mit deinem Roman Opoe lieferst Du immerhin ein Gegenbeispiel zur Marginalisierung queerer Literatur: Dir ist es gelungen, das Werk bei Ullstein, einem namhaften Verlag, zu veröffentlichen.

Ich würde das nicht unbedingt als Gegenbeispiel aufführen, denn da waren viele Zufälle im Spiel. Die Rezeption von Opoe jedoch ist ein Beispiel für die Unfähigkeit des Mainstreams, mit queeren Texten umzugehen. Ich wurde beispielsweise nie aufs Land eingeladen mit diesem Buch und habe nur in grösseren Städten gelesen. Die FAZ hat eine Rezension veröffentlicht, die gemäss perlentaucher.de befand, dass die Geschichte der Grossmutter spannend sei, sich der Autor danach aber in den eigenen «Liebeleien» verliere – wobei der Begriff «Liebeleien» von Perlentaucher stammt. In der FAZ-Kritik findet sich dieser Begriff zwar nicht, sinngemäss entspricht er aber der Position des Textes. Das ist homophob. Wenn eine schwule Figur Beziehungen hat, warum ist das eine Liebelei und keine ernstzunehmende Liebe? Wenn man nicht begreift, dass das Buch von einer einzigen Liebesgeschichte zwischen dem Ich-Erzähler und Joel handelt, dass da eine Auseinandersetzung stattfindet, die ebenso stark ist wie die Auseinandersetzung mit der Grossmutter, dann hat man die Geschichte missverstanden. Queere Beziehungen sind immer anders als heteronormative, sie haben ein höheres politisches Potential, sie sind normwidrig und damit notwendigerweise widerständig. Es kostet mich als schwuler Mann eine viel grössere Überwindung, über schwulen Sex zu schreiben, als es einen heterosexuellen Mann kostet, eine heterosexuelle Sexszene zu schreiben, weil schwuler Sex dermassen stigmatisiert und abgewertet wird. Ein queeres Ich ist im Gegensatz zu einem heternormativen Ich – in bester feministischer Tradition – immer auch ein politisches Ich. Diese ungleiche Ausgangslage zu würdigen und zu begreifen, dass diese Mechanismen spielen, muss eine Rezeption zuerst lernen. Wenn das Sensorium dafür aber fehlt, dann hält sie homosexuelle Beziehungen eben für «Liebeleien» und sieht nicht, was für eine revolutionäre Kraft in diesem Schreiben steckt. Wer war vor mit der letzte Schweizer Autor, der eine schwule Sexszene geschrieben hat? Warum spricht man über Christoph Geiser nicht im selben Mass wie über Lukas Bärfuss? Er schreibt schon wesentlich länger als Bärfuss, auf sehr hohem Niveau, aber er wird von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen. Das sind Mechanismen, mit denen man als queere*r Autor*in ständig ringt.

Bemerkenswert an Opoe ist die Wiederkehr von Spiegelfiguren. In einer Szene vervielfältigen sich diese Reflexionen: Donat spiegelt sich im Zugfenster, in seiner Grossmutter Opoe und zuletzt im Schreiben seiner Geschichte. Was hat es damit auf sich?

Ein zentraler Realisierungsprozess für die Figur Donat ist es festzustellen, dass es gar nicht so sehr darum geht, wer seine Grossmutter faktisch war, sondern in welcher Beziehung sie zueinanderstehen: was er in sie hineinliest, was das mit seiner Weltvorstellung zu tun hat und damit, wie er sich Liebe vorstellt. Diese Spiegelung im Anderen ist selber auch wieder eine Beziehung, eine Beziehung zwischen dem Spiegelbild und dem, der sich spiegelt. Das Spannende ist also nicht, was genau im Spiegel ist und wer in den Spiegel schaut, sondern was man im Spiegel sieht. Dieser Erkenntnisprozess prägt den ersten Teil des Romans sowie den Schreibprozess. Im zweiten Teil rückt die Geschichte der Ich-Figur in den Vordergrund, weil sie sich oder ich mich beim Schreiben immer mehr dafür interessiert habe, wie sich diese beiden Figuren gegenseitig beeinflussen. Es ist eine literarische Reflexion darüber, wie sich Menschen in Verwandtschaftsbeziehungen gegenseitig prägen, was man erbt und lernt voneinander, was man übernimmt, bewusst oder unbewusst. Damit verbunden ist ein poetisches Prinzip: Eine Variante des Schreibens besteht für mich darin, dass ich mich in meine Figuren verliebe und versuche, diesen Prozess schriftstellerisch aufzubereiten und so den Leser*innen als Erfahrung zu ermöglichen. Etwas, was für mich nach dem Tod meiner tatsächlichen Grossmutter auch selber wichtig war: Ich wollte sie nochmals liebgewinnen.

Damit sind wir bei einem zentralen Thema des Romans: Autofiktion. Kann man sich in autofiktionale Figuren besser verlieben?

Opoe ist auch eine persönliche Auseinandersetzung mit meiner Grossmutter, ja. Ich konnte mich ihr, oder zumindest ihrer Figur, schreibend wieder annähern. Das interessiert mich an Literatur, dass sie das leisten kann. Ganz allgemein ist Literatur für mich dann wertvoll, wenn sie mich berührt, beim Schreiben wie beim Lesen. Mein Hang zur Autofiktion erklärt sich daher, dass an eine Art Übertragungsästhetik glaube: Wenn ich über Dinge schreibe, die mich beim Schreiben berühren, dann glaube ich, dass diese Emotionen auch für die Leser*innen spürbar werden. Das gilt übrigens auch für meinen neuen Roman, auch dort wird Autofiktion eine Rolle spielen. Ich habe eine Abneigung, ja auch eine Berührungsangst vor «l’art pour l’art», vor allzu ästhetizistischer Literatur. Für mich ist Literatur system- und lebensrelevant, was heisst, dass sie etwas mit dem Leben zu tun haben muss – letztlich auch und gerade mit meinem Leben. Nur so kann und will ich mich über Jahre hinweg mit einem Text beschäftigen.

Du hast von einem neuen Romanprojekt gesprochen. Magst Du mehr darüber erzählen?

Ich schreibe sehr suchend, eigentlich immer. Nun habe ich wieder eine Figur, die auf eine real existierenden Person zurückgeht und nach Peru ausgewandert ist. Eine Figur – das als Bogen zum Anfang des Gesprächs –, die sich aus der «Enge» der Schweiz «befreit» hat. Mich interessiert dieses Bedürfnis »wegzugehen». Also spüre ich jetzt dieser Figur nach und stelle mir die Frage, was sie mit mir zu tun hat, denn schliesslich muss es irgendeinen Grund dafür geben, dass sie mich berührt. Und auch in diesem Text wird es um queere Identitäten gehen und um die Frage, was die Aids-Krise von damals mit uns heute noch zu tun hat. Ich meine, dass es da eine Verbindung gibt, die sehr stark ist. Unter anderem dürften viele Stigmata der schwulen Homosexualität ihren Ursprung in der AIDS-Krise haben. Obwohl ich damals noch sehr jung war, habe ich diese Zeit und die Medienberichterstattung als sehr prägend in Erinnerung. Ich erinnere mich beispielsweise sehr genau daran, wie meine Eltern mich vor dem Hintergrund von HIV aufzuklären versuchten. Das war in meiner Kindheit ein virulentes, bedrohliches Thema, und es war ganz eng an männliche Homosexualität gebunden. Dieses Thema muss auch für die Schweiz erzählt werden und ich sehe mich irgendwie in der Pflicht: Denn, wenn ich es nicht mache, dann macht es vermutlich niemand.

 

Das Gespräch führte Urs Albrecht./ Foto Titelbild: © Melanie Hauke