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Ein Heldenlied

Wie lauten die Geschichten der Namenlosen, von denen die Schweizer Geschichte profitierte? Fabiano Alborghettis Versroman «Maiser» verleiht ihnen Resonanz jenseits sozialhistorischer Klischees.

Von Tiziana Gohl
10. Mai 2021

«Maiser», «Polentafresser», das sind nur zwei all jener Beschimpfungen, die man italienischen «Gastarbeitern» in der Schweiz an den Kopf warf. Auch Protagonist Bruno und seine Ehefrau Fermina durchleben Unwirtliches, als das Paar 1953 das rurale Amelia Umbriens gegen Mendrisio im Tessin austauschen. Fabiano Alborghettis Versroman Maiser bildet den kreativen Kontrapunkt zu diesen abschätzigen Stimmen. Es ist ein Heldengesang auf eine Figur namens Bruno: aufgewachsen mit der harten Arbeit auf Ackerfeldern, gebrandmarkt von Kriegserfahrungen und schliesslich gezwungen zur Emigration, um der materiellen Not zu entkommen. Immer wieder «von vorn» beginnen Bruno und Fermina mit der Arbeitssuche: zuerst in den Abruzzen, dann in der Schweiz, jedoch mit einer wachsenden «Leere / im Bauch» – förmlich spürbar durch die eingerückten Verse auf dem Papier. Diese Leere entwächst der inneren Zerrissenheit, im neuen Zuhause fremd zu bleiben und sich zugleich der alten Heimat zu entfremden, dort plötzlich als «Schweizer» zu gelten.

Migrationsgeschichten haben eine reiche literarisch Tradition in der Schweiz. Alborghetti rückt die Einwanderung ins Tessin ins Zentrum seines Romans und erweitert das Genre um eine weitere Protagonistin: die Musik. Mit seiner Ziehharmonika spielte Bruno in Umbrien zu Festen auf und gewann das Herz seiner geliebten Fermina. Jahre später stiftet seine Musik Gemeinschaftssinn jenseits der Grenze und vereint all jene, deren Geschichten zwischen den Zeilen miterzählt werden: «sprichst du von dem einen / von wie vielen anderen wirst du gesprochen haben?». So ist es nur folgerichtig, hat sein Schöpfer ein Ohr fürs Musikalische in der Sprache. Mutet Alborghettis Komposition in freien Versen erstmal ungewöhnlich an, entfaltet der texteigene Rhythmus atmosphärische Dichte. Mittels prägnanter Wortsetzung wird schmerzhaft nah an der Lebensnot und den kleinen Freuden des Alltags erzählt. Und manchmal ist es die Stille – die Leerstelle, bei der man plötzlich innehält – die sich am lautesten Platz verschafft. Alborghettis lyrischer Sprache gelingt es fern vom Pathetischen eine Unmittelbarkeit herzustellen, bei der man glaubt, vermeintlich bekannten Geschichten zum ersten Mal zu vernehmen.

Zum Autor

Fabiano Alborghetti, 1970 in Mailand geboren, lebt in Rancate (TI). Bekanntheit erlangte Alborghetti insbesondere als Lyriker; zu seinen bisherigen Veröffentlichungen zählen u.a. «Verso Buda»(2004), «L’opposta riva» (2006),
«Registro dei fragili» (2009), «Supernova» (2011) und «L’opposta riva – dieci anni dopo» (2013). Für seinen Versroman «Maiser» erhielt er 2018 den Schweizer Literaturpreis. Daneben war er Co-Leiter des Festivals «PoesiaPresente», arbeitete als Redaktionsleiter der Literaturzeitschrift «Atelier» und ist derzeit für das wissenschaftliche Komitee des «Babel»-Festivals tätig.
© Foto: Ladina Bischof

Jahre der Recherche in Archiven, Interviews, wiewohl auch Alborghettis Liebe zur Literatur haben sich in seinem Versroman sedimentiert. Doch seine Stärke gewinnt der Text in erster Linie durch seinen Fokus aufs komplexe, fehlbare Individuum. Weder Bruno noch Fermina entsprechen der klassischen Heldenfigur eines Versepos und es sind keine spektakulären âventiuren, sondern die Hürden des Alltags, die sie meistern müssen. Wir begleiten das Paar, wie es sich in Italien und später in der Schweiz ein neues eigenes Leben erarbeitet, hören von den unscheinbaren Heldentaten, die sie täglich vollbringen, um gegen sozialen und institutionelle Diskriminierung anzukommen. Bruno und Fermina sind keine PartisanenkämpferInnen, keine Leuchtfiguren und doch gelingt ihnen eine soziale Mobilität, die ihren Kindern das Schuften auf den Feldern erspart und das Studium ermöglicht.  Brunos Geschichte in Versform zu fassen, verleiht dem individuellen Alltagsentscheiden besondere Relevanz und ermöglicht zugleich eine neue Sichtweise auf die kollektive Geschichte der Auswandererfamilien.

Verstummt Bruno, ist es an seiner Tochter Chiara gegen das Vergessen anzuerzählen. So ist Maiser Versepos und Generationenroman zugleich, über die zentrale Familiengeschichte hinaus. «Warte jetzt / Sie dich um. / Fang von vorne an» liest man zum Schluss. Die Diskriminierungen, wogegen Bruno und Fermina hatten ankämpfen müssen, um als Individuen respektiert und nicht als «Maiser» abgestempelt zu werden, sind mit der in Retrospektive erfolgreichen Integration der Italienerinnen und Italiener nicht vom Tisch. Alborghetti setzt somit der titelgebenden Schmähwort «Maiser» eine lyrische Poetik programmatisch entgegen. Seine Verse lesen sich als Abgesang auf blinde Diffamierungen, besingen im unprätentiösen Heldenlied die individuelle Geschichte unscheinbarer Menschen. Und vielleicht, wie auf Brunos Konzerten, «geschieht’s dass jemand mitsingt»?

Fabiano Alborghetti: Maiser. Übers. v. Maja Pflug, Klaudia Ruschkowski. 224 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2020, ca. 32 Franken.