KW09

Portraits packen aus

Martina Clavadetschers «Vor aller Augen» gibt Frauen aus berühmten Gemälden das Wort.

Von Kora Schild

Die Ungewürdigten

Zum Bild gesellt sich das Wort: Es werden 19 Frauen porträtiert, deren Körperlichkeit einst «vor aller Augen» war, deren persönliche Biografien aber – abgesehen von genüsslich tradierten Skandalgeschichten – mehrheitlich in Vergessenheit geraten sind, manchmal auch nie wirklich bekannt waren. Diese Frauen existieren zum Teil seit Jahrhunderten als Objekte der bildenden Kunst, sind gleichsam verewigt – es sind aber vornehmlich die malenden Männer, die durch diese berühmt geworden sind. Diese Körper möchte die Autorin zu uns sprechen lassen, als Subjekt erzählen lassen, natürlich auch in ihrer Beziehung zum Maler.  Die Sprache der Darstellerinnen ist, abgesehen von einigen zeit- oder ortstypischen Aneignungen, die Sprache unserer Gegenwart. Aus einer Synthese von Historie und Fiktion, Bild und Text, Prosa und Lyrik entstand ein verspieltes Buch mit bitterer Note. Martina Clavadetscher führt uns über 450 Jahre Kunstgeschichte vor Augen, in denen Frauen unterdrückt und zurückgedrängt, einzig als Objekt gesehen wurden, als schöne Hülle, ohne dass sie ihre eigenen Talente verwirklichen konnten. Ihr Blick gilt in erster Linie den weiblichen «Opfern».

Zur Autorin

Martina Clavadetscher, geb. 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Es folgten ein Stipendium-Aufenthalt in Berlin und Uraufführungen ihrer Theaterstücke in der Schweiz und Deutschland. Im März 2014 erschien ihr Prosadebüt «Sammler». Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Stück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war damit im selben Jahr zum Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für ihren ersten Roman «Knochenlieder» wurde sie 2017 für die Shortlist des Schweizer Buchpreises nominiert und mit dem Literaturpreis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. Clavadetscher zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Dramatikerinnen der Schweiz.
Foto: © Janine Schranz

Viele Geschichten, ein Ton

Obwohl die 19 Frauen sich in ihrer Herkunft, in ihrem Beruf oder auch in ihrer Körperlichkeit sehr voneinander unterscheiden, haben ihre Worte eine gemeinsame narrative Struktur. Der Text als Ganzes liest sich wie eine fortlaufende Wiederholung, wie ein Kreislauf, eine Art stetige Wiedergeburt. Feine Verästelungen führen von einer Protagonistin zur andern, verbinden sie untereinander. Die Autorin arbeitet nicht mit Spannungsbögen, auch wenn die individuellen Geschichten dies sicherlich angeboten hätten. Die meisten Frauen beweinen, dass aus ihnen hätte mehr werden können, wenn sie nicht alle in irgendeiner Form patriarchaler Strukturen gefangen gewesen wären. Viele Geschichten, ein gemeinsames Schicksal. Sobald aber die Lesenden in das Schicksal einer Frau eingeführt werden, anfangen, mit ihr zu sympathisieren, neigt die Geschichte sich schon dem Ende zu. Fraglich bleibt dabei, ob die einzelnen Frauen so tatsächlich in ihrer Einzigartigkeit, in ihrer Individualität gewürdigt werden oder ob sie durch diese wiederkehrende gleiche Struktur nicht einmal mehr auf ihr Geschlecht und die damit verbundene Chancenungleichheit reduziert werden.

Das ganze Buch gleicht einem Poesiealbum: Menschen, die mit den jeweiligen Umständen und Geschichten näher vertraut sind, können ihre Erinnerungen neu beleben, ihnen Aspekte hinzufügen, für Aussenstehende bleiben wohl mehr die ungelebten Leben hängen. Zwei Motive jedoch wirken verbindend über alle Geschichten hinweg: Die Erotik und der Tod. Insbesondere der Tod durchzieht die Geschichten wie ein überall lauernder Schatten, was die erotischen Begegnungen von Malern und Modellen in existentiellem Licht erscheinen lässt.

Musentum als reine Objekthaftigkeit?

Zuletzt bleibt jedoch die Frage offen, ob wir Frauen wirklich gerecht werden, sie in ihrer Modellhaftigkeit in eine Opferrolle zu drängen. Schauen wir in die Literaturgeschichte, so lassen sich viele Frauen finden, die in ihrem Objektstatus verehrt, ja geradezu zelebriert wurden: Wir denken an die vielen Musen, Femmes Fragiles und Femmes Fatales, die uns wunderbare Geschichten schenkten. Doch leider wird nur im Nachwort kurz angetönt, was diese Frauen eigentlich ausmachte: «Sie waren nicht bloss dargestellte Objekte, sondern immer auch Mitarbeiterinnen, Unterstützerinnen, Trägerinnen, ein Spiegel ihrer Zeit, Ikonen, Inspiration, Partnerinnen, Retterinnen und in allen Fällen absolut notwendig.» Erst hier werden die Frauen eben nicht nur als objekthafte, in Vergessenheit geratene Frauen dargestellt, sondern auch als Frauen, die ihre Rolle als Objekt eben umzudrehen und auszureizen wussten, damit spielten und uns verführten.

Martina Clavadetscher: Vor aller Augen. 240 Seiten. Zürich: Unionsverlag, ca. 32 CHF.

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