KW16

Fantastische Realitäten

Der prämierte Kriminalromanautor Linus Reichlin bleibt mit seinem neusten Werk «Señor Herreras blühende Intuition» auf gesichertem Terrain und verzahnt das Krimigenre mit einem populären Literaturtopos: das programmatische Überspielen der Trennlinie zwischen Realität und Fiktion.

Von Marc Fritschi
19. April 2021

Linus Reichlins neuster Roman Señor Herreras blühende Intuition beginnt mit der Anreise des Autors Leo Renz in ein andalusisches Kloster. Dort möchte der Autor zum einen seinen konstant zu hohen Ruhepuls durch die ruhige Umgebung auf ein vertretbares Mass herunterbringen und zum anderen sein neues Romankonzept mit Erlebnissen vor Ort anreichern. Der Koch und Gästebetreuer des Hotels, Herrera, scheint jedoch überzeugt, dass sein Romanentwurf keineswegs fiktiv ist: Als Renz ihm an seinem ersten Abend erzählt, dass es bei seinem neuen Roman um eine Frau gehen soll, die Zeugin eines Mafiamordes wurde und sich nun in einem Kloster versteckt, fragt Herrera ihn nur, ob er das wirklich gewusst habe. Herrera habe nämlich bei der neuen Schwester im Kloster schon länger einen Verdacht gehabt, der sich ja nun in dem Roman bestätigt finde. Beharrlich schmettert Herrera die Einwände Renz’, es handle sich bei der Textskizze um Fiktion, mit einer umfassenden Darlegung sämtlicher Gegenindizien ab und so überzeugen sich die beiden schliesslich gegenseitig, dass es sich bei der Nonne tatsächlich um eine versteckte Zeugin handelt. Damit wird die Romanfiktion handlungsbestimmend und folgerichtig die zweite Besucherin für eine Auftragskillerin der Mafia gehalten, die es auszuschalten gilt.

Der Ereignisreichtum, der leichte Schreibstil und der subtile Humor in Form eines «Kann man ihm das verübeln? Ja, kann man» sorgen für eine flüssige Lektüre, die nur stellenweise durch metaleptische Gedankenspiele des Erzählers unterbrochen werden. Damit werden die Grenzen zwischen Intuition und Tatsachen, Fiktion und Realität nicht nur in der Binnenerzählung verflüssigt, sondern auf die Ebene der Rahmenerzählung zurückgespiegelt. Dieses Spiel findet auch Eingang in Renz’ Bewusstsein, der seine Erzählposition immer expliziter macht, indem er beispielsweise vorwegnimmt, was er Herrera gleich sagen lassen wird. Neben der Situationskomik glänzt Señor Herreras blühende Intuition durch erzählerische Kniffen und wer daran Vergnügen findet, ist bei diesem Roman genau richtig.

Zum Autor

Linus Reichlin, 1957 in Aarau geboren, arbeitete zunächst als Reporter und Kolumnist - bis 2002 für die «Weltwoche». Seit 2007 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen die Romane «In einem anderen Leben» (2014), «Manitoba» (2016), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019) und «Señor Herreras blühende Intuition» (2021).
Foto: © Susanne Schleyer

Folglich wird das Schreiben selbst zu einem zentralen Sujet des Textes: So zitiert Renz nicht nur häufig andere Literaten und ihre Texte – Miguel de Cervantes Don Quijote zeichnet sich merklich als Textfolie ab –, sondern findet sich zunehmend mit poetologischen Reflexionen beschäftigt. Seine Erkenntnis, dass Schreiben ein langweiliges Leben voraussetze, greift den Umstand auf, dass die Fiktion sein Leben ereignisreicher macht und die Ereignisse in seinem Leben den Roman wiederum voranbringen. So löst sich die Realität von Herreras und Renz’ Welt mehr und mehr in der Romanfiktion auf. Hinzu kommen selbstreflexive Kommentare, die die Ironie des Textes unterstreichen. Auch die Literaturkritik hat ihren gebührlichen Auftritt, wenn Renz die Reaktion der Kritiker:innen im Text vorwegnimmt. Reichlin, dessen Debütroman den Deutschen Krimipreis erhielt, zeigt einen guten Sinn für Selbstironie, so kann Renz seine Geringschätzung für Kriminalromane nur schwer verbergen.

Die vermeintlich letzte Wendung führt zu einer überraschend rührenden, neuen Perspektive, so dass man sich wünscht, dass der Roman hier enden würde. Nicht eine Zeugin versteckt sich in dem Kloster vor der Mafia, sondern eine Nonne, die versucht, die Demenz ihrer Mitschwestern zu verbergen, um die Schliessung des Klosters zu verhindern. Doch der Wunsch nach einem abrundenden Ende bleibt unerfüllt und das letzte Kapitel führt weiteres literarisches Kunststück, mit dem die Kunst aus dem Werk gerissen wird. Das andalusische Kloster war lediglich eine Kulisse, um die eigentlichen Ereignisse, die in Norwegen stattgefunden haben, unkenntlich zu machen. Die Wendung im letzten Kapitel zwingt zwar zu einer radikalen Revision der gesamten Erzählung, aber man folgt dieser Bewegung nur noch widerwillig. So wird man abschliessend das Gefühl nicht los, dass hier eine Chance vertan wurde, dem einfachen Leitsatz zu folgen: man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.

Linus Reichlin: Señor Herreras blühende Intuition. 272 Seiten. Berlin: Galiani Berlin 2021, ca. 30 Franken.