KW52

Ein Bündner erzählt die Welt

In seinen Zwanzigern liess Arno Camenisch die enge Schweiz hinter sich, umrundete den Globus und sammelte dabei Erfahrungen fürs Leben. Diese hat er zu seinem neusten Roman verarbeitet. Die Welt soll ein Ausbruch sein aus seinem bisherigen Erzählen, doch bleibt der Roman in weiten Teilen hinter diesem Anspruch zurück.

Von Michael Ulrich
27. Dezember 2022

Dreizehn Jahre ist es her, dass Arno Camenisch seinen ersten Roman veröffentlichte. Seither ist jedes Jahr ein Buch von ihm erschienen, jedes spielte in der Surselva und alle wurden sie von Urs Engeler verlegt. Der neue Roman nun, Die Welt, geht in vielerlei Hinsicht neue Wege. So erzählt Camenisch aus seinen Zwanzigern, als er die Welt umrundete, unverbindliche Beziehungen pflegte und die Tage nahm, wie sie kamen. Und auch der Verlagswechsel zu Diogenes markiert einen Aufbruch – nur wenig scheint also noch beim Alten zu sein.

Die Entdeckung der Welt

«Die Welt hatte sich verändert.» So beginnt Camenisch seinen Roman und meint damit die Corona-Krise, die eine tiefe Schneise in sein bisheriges Verständnis der Welt geschlagen hat. Die plötzliche Enge, der zu entkommen unmöglich ist, versetzt ihn zurück an den Beginn des Jahrtausends, als er, zwanzigjährig, aufbrach, um die Welt kennenzulernen. Ohne nachzudenken, ohne einen Gedanken daran, was hinter ihm lag und was in einer ferneren Zukunft vor ihm liegen würde, zog es ihn während zwei Jahren nach Australien und Südamerika, wo er Erfahrungen sammelte, die bis heute prägend sind.

Zum Autor

Arno Camenisch, 1978 in Tavanasa geboren, schreibt auf Deutsch und Rätoromanisch. Er studierte am Literaturinstitut in Biel, wo er auch heute lebt. Seine viel beachteten Texte wurden in über 20 Sprachen übersetzt.
Foto: © Sébastien Agnetti

Camenisch erzählt zum ersten Mal von sich selbst: Nachdem er sich der heuchlerischen Strenge des Militärdienstes unterzogen und ein langfristiges Jobangebot ausgeschlagen hat, lässt er die Schweizer Enge hinter sich und sucht das Weite in Australien, wo er die Unerreichbarkeit geniesst und die Unverbindlichkeit des Lebens. Später dann reist er durch Südamerika, saugt die Atmosphäre in sich auf, bringt sich nebenbei Spanisch bei und lernt vor allem fürs Leben: «Was ich da draussen lernte, war fürs Leben, das würde ich in keinen Büchern finden, das gab mir zu verstehen, was dieses Leben sein könnte, was die Leute beschäftigte und wie sie lebten.»

Erinnerungen daran

Immer wieder folgen längere Erzählpassagen, doch sind die Erinnerungen oft nur lose miteinander verbunden und von Verweisen auf Vergangenes und Zukünftiges durchzogen. Dabei entsteht ein Konglomerat, das manchmal nur schwer fassbar ist; die Unbeständigkeit, von der der Roman erzählt, schwappt über auf das Erzählen, das hin- und herpendelt zwischen der Gegenwart, in der Camenisch nicht ohne Sentimentalität auf die unabhängigen Jugendjahre zurückblickt, und den verschiedenen Episoden der Vergangenheit.

Eine dieser Episoden ist die Beziehung zu Amélie. Als Camenisch von Australien für eine Weile nach Chur zurückkehrt, lernt er dort Amélie kennen, die ebenfalls ein Leben in Unverbindlichkeiten pflegt. Spontan treffen sie sich, verbringen intensive Stunden und gehen voneinander, ohne zu wissen, wann sie sich wieder sehen. «Ich gab ihr keinen Grund zu bleiben, vielleicht war ihr das Grund genug, um wiederzukommen.» Die Beziehung endet jedoch schon bald, denn Camenisch zieht es wieder fort, diesmal nach Südamerika, wo er ähnliche Tage verbringt wie bereits in Australien.

Was bleibt von der Welt?

Die Verbindung zu Amélie ist sinnbildlich für den Roman. Die erzählten Wanderjahre wirken auf den ersten Blick prägend für Camenisch – fast wie in einem Bildungsroman stösst sich der Protagonist die Hörner ab, beweist sich auf eigenen Beinen in der Welt. Doch haben all diese Erlebnisse kaum Gewicht für das Buch als Ganzes, Konsequenzen des Erlebten fehlen, und wie der Coupe, den der Erzähler einmal mit seiner Mutter auf einer Restaurantterrasse isst, bleibt das Geschehene «ein Relikt aus einer vergangenen Zeit», das mehr schlecht als recht in die Gegenwart hineinreicht.

Viele Jahre sind vergangen, als Camenisch an einem Januarmorgen auf den See hinausblickt und sich an die Geschehnisse von früher erinnert. Einigermassen lebendig scheinen sie noch zu sein, doch ist nur wenig wirklich haften geblieben. «Eine neue Zeit brach an. Was kommen würde, wusste man nicht, ich freute mich aber darauf», resümiert Camenisch am Ende von Die Welt. Für einen Roman, dessen Titel kaum weiter gefasst sein könnte, ist diese Erkenntnis dann doch etwas banal und es stellt sich die Frage, ob Camenisch nun erneut seine Sachen packt und ohne Handy nach Australien verschwindet. Wir werden es wohl im nächsten Buch erfahren, das erfahrungsgemäss nächstes Jahr erscheinen dürfte.

Arno Camenisch: Die Welt. 144 S. Zürich: Diogenes Verlag 2022. Ca. 30 CHF.

Zum Verlag

Weitere Bücher